piwik no script img

CannesCannesVom Nutzen fester Schuhe und Gebete

■ Primo Levis Auferstehung, ein scheußliches Gemetzel und andere Peinlichkeiten

Francesco Rosi hat Primo Levis Buch „Die Atempause“ verfilmt. Daß er damit Schiffbruch erlitten hat, ist keine große Überraschung. Aber war es wirklich nötig, die Sache derart peinlich in den Sand zu setzen? Levi berichtet in seinem Buch, wie er von Auschwitz nach Italien zurückkehrte. Der Weg führte ihn zusammen mit einer Gruppe Italiener quer durch Europa nach Turin. Schlicht gesagt hatte er in dieser Zeit hauptsächlich mit zwei Dingen zu kämpfen: daß er leben würde und daß ausgerechnet er überlebt hatte, wo so viele andere umgekommen waren.

Im Film lernt Levi (John Turturro) von einem widerlich großmäuligen Griechen, wie wichtig es ist, ein paar gute Schuhe zu haben. Da sieht das Leben doch gleich anders aus. Die Auschwitz- Häftlinge bekunden ihre wachsende Lebensfreude mit immer heftigerem Singen und Kammermusizieren. Wir erfahren, wo die erste Geige geklaut wurde, aber wie sie den Kontrabaß beschafft haben, darf sich der Zuschauer selbst ausdenken.

In Schwarzweiß-Rückblenden erinnert sich Levi an Auschwitz – vor allem an die Kinder. Rosi hat seinen Kinderdarstellern die Köpfe kahl scheren lassen und filmt minutenlang ihre Gesichter, als gäbe es da irgend etwas zu sehen. Bevor es schließlich nach Turin geht, hält der Zug mit den singenden Italienern an Bord in München. Eine Gruppe von Deutschen arbeitet im Bahnhof an den Gleisen, von amerikanischen MPs bewacht. Levi steigt aus und sieht sie an. Schließlich blickt einer der Deutschen auf. Levi schlägt seinen Mantel auf – darunter trägt er seine Häftlingsjacke mit dem Stern und der Nummer, die sie ihm in Auschwitz zugeteilt haben. Der Deutsche fällt auf die Knie, senkt den Kopf und faltet wie im Gebet die Hände. Daß ein Mann, der vor gut 20 Jahren einen so wunderbaren Film wie „Der Fall Mattei“ gedreht hat, heute so eine verlogene Szene inszenieren kann, bringt einen auf Selbstmordgedanken. Wenn das die Folgen des Altwerdens sind, kann ich darauf verzichten.

Zwei Männer dringen in das Ferienhaus einer Familie ein. Falsch. Sie dringen nicht ein, sie verschaffen sich höflich Zutritt. Sie wollen ein paar Eier ausleihen. Es dauert eine Weile, bis man kapiert, daß sie es ernst meinen. Sie werden die Familie töten. Sie schließen eine Wette darüber ab, daß bis morgens um neun Uhr alle tot sein werden. Die Eindringlinge, sie nennen sich Peter und Paul, sind ungemein höflich. Sie haben dem Mann bereits mit einem Golfschläger das Bein gebrochen und die Frau verprügelt. Da sagt der eine mit sanfter Stimme zu dem Kind: „Könntest du mir was zu essen holen? Wäre das möglich? Das ist lieb von dir.“ Sie schreien nie. Aber sie verlangen von ihren Opfern immer wieder, daß sie allem zustimmen.

Hanekes Film „Funny Games“ (Wettbewerb) ist ein Film über Gewalt. Er zeigt die Handlungen nie, nur die Gesichter: die Heulausbrüche, manchmal Blut. Das Kind stirbt zuerst. Wir hören den Schuß, die Schreie, Kampfgeräusche und sehen dabei zu, wie Paul sich in der Küche ein Brot schmiert.

Dreimal in diesem Film sieht Paul direkt in die Kamera, sucht Zustimmung bei den Zuschauern. Das erste Mal, als Anna die Leiche des Hundes findet. Da dreht er sich um und zwinkert uns zu. Beim zweiten Mal fragt er uns nach der Wette: „Was meinen Sie? Sie sind doch auf ihrer Seite, oder?“ Beim dritten Mal soll die Frau ein Gebet aufsagen. Wenn sie es richtig sagt, darf sie entscheiden, ob zuerst ihr Mann oder sie sterben soll und mit welcher Waffe das geschehen soll. Der Mann verlangt, daß die Mörder es endlich zu Ende bringen. Da sagt Paul: „Pfui, das ist feig. Wir sind noch nicht auf Spielfilmlänge.“

Für wen hält sich dieser Scheißkerl von Haneke eigentlich? Wahrscheinlich ein Meisterwerk. Anja Seeliger

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen