■ Großbritannien: Blair stellt sein radikales Programm vor
: Die sozialdemokratische Moderne

„Ich werde an der Regierung radikaler sein, als viele glauben“ – so sprach Tony Blair kurz vor seinem Wahltriumph. Und schon in den ersten Tagen ließ sein Kabinett in einem heftigen Stakkato Maßnahme an Maßnahme folgen. Trotzdem kommentierte der Economist, der die Paradoxien liebt, nach Blairs Triumph: „Europa geht nach rechts“ – weil die Sozialdemokraten zwar siegen, aber mit neuem Liberalismus im Programm. Deshalb muß sich New Labour auch von pessimistischen Traditionslinken prophezeien lassen, die Enttäuschung über die Blair-Wende sei programmiert, da der Tory-Geist ja auch die britischen Sozialdemokraten durchwehe. Mögen das Zentralorgan des angelsächsischen Kapitals und die kontinentale Linke nur keinem Irrtum aufsitzen.

Denn das 26-Punkte-Regierungsprogramm New Labours kann man gut und gerne als historischen Test über die Zukunftsfähigkeit moderner Sozialdemokraten lesen. Ein Test wie im Laboratorium: Negativen Einflüssen, wie sie in der politischen „Wirklichkeit“ immer wieder die wohlfeile Programmatik durchkreuzen, sieht sich Blair nicht ausgesetzt. Im Unterhaus hat Labour eine derart erdrückende Mehrheit, daß er tun kann, was er will. Kein höhres Wesen, kein Bundesrat, Kongreß, Präsident steht ihm im Wege, auch die Königin nicht. Und er regiert aufregend vernünftige Briten, von denen sich in einer Umfrage 60 Prozent für Steuererhöhungen aussprechen.

Entsprechend die Programme der letzten Tage: 13 Milliarden D-Mark aus einer Sondersteuer auf jüngst privatisierte Betriebe sollen für sozialen Wohnungsbau und ein Arbeitsbeschaffungsprogramm für 250.000 arbeitslose Jugendliche aufgewendet werden – das radikalste Sozialprogramm seit Kriegsende. Außenminister Robin Cook schließlich verkündete nicht nur eine „humanitäre Wende“ in der Außenpolitik, sondern spektakulär eine „Neue Ära“ in der Europapolitik. Dem deutsch-französischen Duett gesellt sich also ein dritter, prononciert sozialdemokratischer Player zu, was das Kräftegleichgewicht in EU-Europa noch nachhaltig verschieben wird.

Erstmals sieht sich eine Linksregierung nicht gezwungen, „Errungenschaften“ zu verteidigen – die haben die Tories schon längst abgetragen. Sie kann, auf den Trümmern der Kahlschlag-Modernisierung des Thatcherismus, eine sozialdemokratische Moderne bauen. Robert Misik

Der Autor ist Deutschland-Korrespondent des Magazins „Profil“