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Jahrhundert der Urninge

■ Heute vor hundert Jahren gründete Magnus Hirschfeld das "Wissenschaftlich-humanitäre Komitee". Es gilt als Ursprung der Schwulenbewegung. Das Programm war revolutionär: Es forderte die Gleichheit des anderen Von Ja

Jahrhundert der Urninge

In seinem Buch „Berlins Drittes Geschlecht“ gibt Magnus Hirschfeld, Vorsitzender des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK), einen plastischen Eindruck vom schwulen Leben um die Jahrhundertwende. Öfter wurde er wegen seiner Arbeit für Homosexuelle als Ehrengast geladen: „Einmal war ich auf einer Gesellschaft unter lauter homosexuellen Prinzen, Grafen und Baronen. Außer der Dienerschaft, die nicht nur in bezug auf die Zahl, sondern auch in Hinblick auf ihr Äußeres besonders sorgfältig ausgewählt schien, unterschied sich die Gesellschaft in ihrem Eindruck wohl kaum von Herrengesellschaften derselben Schicht. Während man an kleinen Tischen sehr opulent speiste, unterhielt man sich anfangs lebhaft über die letzten Aufführungen Wagnerscher Werke, für welche fast alle gebildeten Urninge eine auffallend starke Sympathie hegen.“

Urninge – so nannte man die homosexuellen Männer; das verächtlich gemeinte Wort „schwul“ wurde erst von der Homobewegung der frühen siebziger Jahre aufgegriffen, um das Stigma in ein selbstbewußtes Prädikat umzuwandeln. Der Begriff „Urning“ leitet sich ab vom Wort Urninde, dieses wiederum von Urania, dem alten Beinamen der griechischen Liebesgöttin Aphrodite. Und Urninde bezeichnete eine Frau mit gleichgeschlechtlichen Neigungen.

Magnus Hirschfeld, der Arzt, war ein brillanter Chronist einer Bevölkerungsgruppe, die seit der Reichsgründung 1871 landesweit verfolgt wurden. Er wußte nicht nur aus Adelskreisen, sondern auch aus dem Berliner Proletenmilieu zu berichten. Sein Fazit: Homosexualität gibt es überall – sie hat weder mit bürgerlicher Dekadenz noch mit einem Mangel an Frauen zu tun. Und: Homosexuelle Männer sind auf ihre Art ebenso normal oder seltsam wie heterosexuelle auch.

1895 wurde der britische Schriftsteller Oscar Wilde in England wegen seiner Homosexualität zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilt. In informierten Urningkreisen wurde dieses drakonische Urteil registriert. Während viele für weiteres Stillschweigen und das gewohnte Leben im Untergrund plädierten, entschied sich Hirschfeld für den öffentlichen Streit, um die Diskriminierung Homosexueller zu beenden.

Zwar war es für Schwule ein historischer Fortschritt, nicht mehr als Sünder und damit Verbrecher zu gelten. Doch die Medizin wies Homosexuellen nun den Rang von Kranken zu. Hirschfeld drehte das Verdikt um: In der programmatischen Gründungserklärung vom 15. Mai 1897 heißt es, das WhK habe die Aufgabe, „auf Grund sichergestellter Forschungsergebnisse und der Selbsterfahrung vieler Tausender endlich Klarheit darüber zu schaffen, daß es sich bei der Liebe zu Personen des gleichen Geschlechts, der sogenannten Homosexualität, um kein Laster und kein Verbrechen, sondern um eine von Natur tief in einer Anzahl von Menschen wurzelnde Gefühlsrichtung handelt“.

Ein für alle Schwulen revolutionärer Akt: Hirschfeld und seine Freunde Eduard Oberg, Franz Josef von Bülow und der heterosexuelle Verleger Max Spohr formulierten heute vor 100 Jahren in der Charlottenburger Wohnung des jüdischen Arztes nichts weiter als die Gleichheit des anderen – die bis heute (trotz mancher Fortschritte) uneingelöst geblieben ist.

In theoretischer Not behauptete Hirschfeld, Homosexuelle seien ein drittes Geschlecht – nicht Mann und nicht Frau. Damit gebe es keine Gründe für die Schikanen mehr, denen Schwule ausgesetzt waren. Zwar gab es in allen größeren Städten des Reiches, aber vor allem in Berlin eine muntere schwule Subkultur. Doch öffentlich werden durfte nichts – wer als Homosexueller erkannt wurde, war gesellschaftlich erledigt. Eine Untersuchung aus dem Jahre 1914 kam zu dem Ergebnis, daß ein Viertel der Homosexuellen „mehr oder weniger ernste Selbstmordversuche“ hinter sich hatte.

Die größte Angst der Schwulen war keineswegs die vor dem Paragraphen 175. 1887 zum Beispiel wurden im Deutschen Reich nur 679 Männer deswegen verurteilt. Doch eine weitaus umfangreichere Zahl von Männern wurde erpreßt. In einem Fall zahlte die Familie eines Homosexuellen sogar noch 35 Jahre nach der „Tat“ Geld an die Hinterbliebenen des Erpressers.

Homosexualität war zudem ein beliebter Grund, politische Gegner zu erledigen. 1908 wird Fürst Philipp zu Eulenburg, Vertrauter von Kaiser Wilhelm II., verdächtigt, schwul zu sein. Er sei der Kopf einer „Kamarilla von sexuell abnormen Männern“, die einen schädlichen Einfluß auf die deutsche Außenpolitik nähmen. Daß dieser Ungeist noch in jüngerer Zeit Kraft hatte, belegt der Fall des Generals Kießling, der 1983 von Verteidigungsminister Manfred Wörner entlassen wurde, weil er als angeblich Homosexueller kein Geheimnisträger sein könne.

Doch nicht nur konservative Kreise wußten auf der Klaviatur der Vorurteile gegen Homosexuelle zu spielen. 1902 titelte der Vorwärts, Zentralorgan der SPD, mit der Zeile „Krupp auf Capri“. Enthüllt wird die Homosexualität des Rüstungsindustriellen.

1923 resümierte Hirschfeld in der Homozeitschrift Die Freundschaft: „Ein Vierteljahrhundert im Kampf um die Rechte Entrechteter – ein solcher Kampf ist keine Kleinigkeit.“

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