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Vollgestellt mit alten Sachen

■ Eine Anthologie über den Unort in der Wohnung: das „Berliner Zimmer“

Berliner Zimmer sind seltsame Zwischenräume: zu groß geratene Durchgangszimmer ohne Bestimmung. Einst, zur Gründerzeit, wurden sie erfunden, um die Wohnung im Vorderhaus mit Bediensteten- und Abstellkammern, mit Bad und WC im Seitenflügel zu verbinden. Unförmig und dunkel, weil sie nur ein kleines Fenster zum Hof besitzen, schlecht geheizt, weil eigentlich überflüssig, sind sie zugleich Zentrum und Peripherie der Wohnung und also gute Orte für Literatur: vollgestellt mit alten Sachen und Erinnerungen.

Das drängt zur Anthologie; ein Wunder, daß sie erst jetzt erschien. Herausgeber Jörg Plath versammelte 25 Beiträge unterschiedlichster Autoren, von Yaak Karsunke bis Heinz Knobloch, von Michael S. Cullen bis Dieter Schnebel, von Matthias Koeppel bis Katja Lange- Müller: Erinnerungen, die nicht immer von Berliner Zimmern im eigentlichen Sinne handeln, immer aber von Berlin. Hans-Ulrich Treichel etwa floh in den 70er Jahren vor Umgehungsstraßen und anderen Schrecknissen der ostwestfälischen Provinz in die mauerbefriedete Dringlichkeit Westberliner Studierens und trat hier eine lange Odyssee durch Zimmer aller Art an: von der Grunewaldvilla bis zum besetzten Haus. Kühn arbeitet er sich aus den durchlittenen Unterkünften zur existentiellen Metapher des So-Seins und Da- Wohnens voran und behauptet folgerichtig: „Ganz Berlin war mein Zimmer.“

Für die nötige wissenschaftliche Grundierung sorgt Klaus Hartung. Er schildert die Genealogie des Berliner Zimmers als historischen Bastard aus innerstädtischer Raumnot, Spekulantentum und bürgerlicher Repräsentativsehnsucht. Für die diskussionsfreudigen Wohngemeinschaften der 60er Jahre war der undefinierte Raum in der Wohnungsmitte dann ein „stiller Imperativ“, der durch soziale Phantasie gefüllt werden mußte. „Die 68er-Rebellion“, schreibt Hartung, „kam nicht aus den Hinterzimmern, sondern aus dem Berliner Zimmer“ und also mitten aus der Hinterlassenschaft des Bürgertums.

Andere, wie Karin Reschke oder Jens Sparschuh, verbrachten hier ihre Kindheit. Sie mußten früh die Kunst des Grenzenziehens lernen, um sich wenigstens in der Imagination einen eigenen Raum zu schaffen. Im Berliner Zimmer, so Sparschuh, „war Platz für Kommunikation und Abgeschiedenheit“. Hier studierte er das sowjetische Lehrbuch über dialektischen und historischen Materialismus und lachte über seine fortschrittsungläubige Oma, die behauptete, die Flugzeuge, die mit Getöse übers Haus flogen, machten den Himmel kaputt. Bis die Oma ihm demonstrierte, daß nicht nur die Gläser in der Anrichte vibrierten, sondern auch ihr Gebiß im Mund: auch eine Lehrstunde in Materialismus.

So wird das Berliner Zimmer, wenn es gutgeht, zum offenen Raum der Erinnerung und des Geschichtenerzählens. Manche Anthologie-Beiträge gleiten allzusehr ins Anekdötchenhafte ab – bei der Dominanz älterer bis alter Herren ist das nicht weiter verwunderlich. Andere nutzen die günstige Gelegenheit für eitle Selbstdarstellung. Dennoch finden sich genug lesenswerte Geschichten zur Geschichte der Stadt. Jörg Magenau

„Mein Berliner Zimmer. 25 Bekenntnisse zu dieser Stadt“. Herausgegeben von Jörg Plath. Nicolai Verlag, Berlin 1997, 220 Seiten, 36 DM.

Am 21. Mai um 20 Uhr wird das Buch im Literaturhaus, Fasanenstr. 23, vorgestellt. Es lesen: Jeanette Lander, Jens Sparschuh und Mario Wirz.

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