: Am Nordrand des Kaspischen Meeres
Schon Lenin gefiel es hier: Er ließ am Wolga-Delta ein Naturreservat anlegen. Der Wasserspiegel ist in den letzten 20 Jahren um drei Meter gestiegen. Seltene Lotosblumen und viele Brutgebiete leiden unter ungeklärtem Abwasser ■ Von Olga Jelissowa
Es dauert nicht lange, und wir haben die letzten Industrieanlagen am Ufer hinter uns gelassen. Immer stärker verzweigt sich der Fluß, immer größer werden die Abstände zwischen den Dörfern, deren Einwohner hauptsächlich von der Landwirtschaft und der Fischerei leben. Auf Schlammbänken sitzen Möwen und Seeschwalben, in der Luft jagen Rotfußfalken nach Insekten. Nach vier Stunden Fahrt sind wir am Ziel. An der Anlegestelle des kleinen Dorfes Damtschik gehen wir an Land. Der Motor des Schiffes ist verstummt, und eine seltene Stille verliert sich in den Ohren. Wir sind im Nationalpark Wolga-Delta – am Nordrand des Kaspischen Meeres, im Süden Rußlands, am Südostrand Europas.
Auch Lenin muß dieser Ort gefallen haben. Schon 1919, inmitten der Bürgerkriegswirren, ließ er hier das erste Naturreservat des neu entstandenen Sowjetstaates einrichten. Die Gegenwart ist weniger ruhmreich. Auf ihren Lohn müssen die Wissenschaftler und technischen Angestellten oft monatelang warten, und das Benzin für die Boote, das einzig mögliche Fortbewegungsmittel in Richtung Süden, ist streng rationiert. Trotz dieser Probleme gibt es aber auch positive Entwicklungen. Seit 1995 fördert die Stiftung Europäisches Naturerbe (Euronatur) Artenschutzmaßnahmen für Seeadler, Fischadler und Krauskopfpelikane, und man sieht den russischen Wissenschaftlern an, daß ihnen die internationale Wertschätzung und Unterstützung ihrer Arbeit ein wenig über die vielfältigen Tücken des Alltags hinweghilft.
German Russanow arbeitet seit mehr als einem Vierteljahrhundert im Nationalpark, der 1985 von der Unesco zum Biosphärenreservat erklärt wurde. Als Drehscheibe des Vogelzugs, so erläutert er, hat das Wolga-Delta eine ähnliche Bedeutung wie das deutsche Wattenmeer. Im Frühjahr grasen hier Millionen von Wasservögeln, bevor sie in ihre Brutgebiete nach Sibirien weiterziehen. Am nächsten Morgen können wir uns davon mit eigenen Augen überzeugen. Wir fahren stundenlang durch auwaldgesäumte Flußarme, über lagunenartige Flachwasserbereiche, vorbei an riesigen Kormoran- und Reiherkolonien. Die Größendimension der Landschaft ist insbesondere für Mitteleuropäer unvorstellbar.
„Große Sorgen bereitet uns der Anstieg des Wasserspiegels des Kaspischen Meeres“, sagt German Russanow am Abend. „Seit 1977 hat man eine Zunahme von fast drei Meter festgestellt, was den Lebensraum für viele koloniebrütende Vögel reduziert. Wenn sich dieser Prozeß fortsetzt, werden wir Damtschik zur Jahrtausendwende evakuieren müssen.“ Über die Ursachen weiß man noch wenig. Vermutlich sind es vor allem klimatische Veränderungen, die den Wasserspiegel steigen lassen. Auch die Existenz der von Ende Juli bis Anfang September blühenden Lotosblume, die noch von den alten Ägyptern als heilige Plfanze verehrt wurde, ist ungewiß, weil Lotos warmes und nicht mehr als zwei Meter tiefes Wasser braucht.
In Astrachan, der Halbmillionenstadt im Wolga- Delta, treffen wir uns mit Juri Tschuikow, dem Chef der lokalen Umweltschutzbehörde. Er residiert in einem mehrgeschossigen Haus im Stadtzentrum und ist Chef von über 200 Mitarbeitern. „Es gibt wohl keinen anderen Ort in Europa“, sagt er, „an dem unberührte Naturlandschaften und ökologische Katastrophengebiete so dicht beieinander liegen. Wir haben große Probleme mit der Wasserverschmutzung der Wolga, viele Betriebe lassen ihren Dreck ungefiltert in den Fluß, und es gibt kein funktionierendes System von Kläranlagen. Noch können die riesigen Schilfflächen des Deltas vieles davon filtern, doch irgendwann wird der kritische Punkt erreicht sein.“
Dramatische Auswirkungen hat die Wasserverschmutzung vor allem auf den einst legendären Fischreichtum der Wolga. 90 Prozent der Störe, der „Kaviar-Fische“, leben im Kaspischen Meer. Auch das Symbol für Feinschmecker auf der ganzen Welt wird in Astrachan hergestellt: schwarzer Kaviar, der von den Störarten Hausen, Waxdick und Sternhausen gewonnen wird. Das Kaviargeschäft wird aber immer knapper, die Fischbestände gehen rapide zurück. Neben der schlechten Wasserqualität ist dafür auch die Fischwilderei verantwortlich, die seit dem Zerfall der Sowjetunion boomt. Der Verkauf von einem Kilo Kaviar bringt soviel ein wie ein Monat reguläre Arbeit. Auch die harten Strafandrohungen des Staates können dagegen nur wenig ausrichten, zumal deren Anwendung sehr flexibel gehandhabt wird.
„Bei der derzeitigen wirtschaftlichen Situation unseres Landes“, sagt Juri Tschuikow, „ist es sehr schwer, Verständnis für Umweltschutzprobleme zu erzeugen. Ein funktionierender Naturtourismus wäre eine Möglichkeit, den Menschen vor Augen zu führen, daß eine intakte Natur auch wirtschaftliche Vorteile mit sich bringt.“ Die Umweltschützer hoffen, daß mehr naturinteressierte Besucher aus dem Westen kommen und dem Aufbau des Naturtourismus damit helfen. Doch bislang ist die Zahl der Besucher aus dem Westen eher gering. Wenn man die Schönheit des Deltas gesehen hat, ist das nur schwer zu verstehen.
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