■ Vorschlag: Bekennendes Radfahrertum im Heimatmuseum Neukölln
Vorschlag
Bekennendes Radfahrertum im Heimatmuseum Neukölln
Natürlich, die Autofahrer. Wer kennt ihn nicht, den alltäglichen Kleinkrieg im Straßenverkehr, wo es nicht gelingen will, sich durch entschiedenen Fortbewegungspazifismus zu entziehen. Kaum ist man dem Auto entstiegen und wandelt unsicher auf dem Trottoir, dann gehen sie einem gewaltig auf die Nerven. Wer? Die Radfahrer natürlich. Der Streit ist aber nicht neu. Schon vor gut 100 Jahren entbrannte er, als man den Verkehr noch schön übersichtlich wähnte. Den „wilden Autlern Einhalt tun“ lautete die kämpferische Devise aus Antimodernismus und Biedermeiertum. Der heute gemeinhin akzeptierte Gegensatz vom guten Radfahrer als ökologiebewußten Zeitgenossen und dem Autofahrer als rücksichtlosem Umweltschwein galt nicht. Radfahren um die Jahrhundertwende war auch nur eine andere Form des Rowdytums.
Im Neuköllner Heimatmuseum ist bis zum 31. August eine Ausstellung zu sehen, die sich der Radfahrerbewegung in Neukölln widmet. Sich zum Radfahrertum zu bekennen bedeutete von Anfang an eine Mischung aus kruder Naturverbundenheit à la Wandervogelbewegung und Mondernitätsorientierung. Zu einiger wirtschaftlicher Bedeutung gelangte beispielsweise die Rixdorfer Firma Gebr. Nöthmann, Nähmaschinen- und Fahrräderfabrik. Die Herrschaft der Mechanisierung zeigte sich in einer ihr typischen Verbindung. Transmissionsriemen jeglicher gesellschaftlicher Aktivität aber war der Verein. Allein in Neukölln gab es um 1906 sechs Radfahrvereine, darunter eine Lokalversion des Arbeiter-Radfahrerbunds „Solidarität“, der mit 329.000 Mitgliedern im Jahre 1930 der größte Radfahrerverband der Welt war. Bei dessen Ausfahrten in die Umgebung spielte die Landagitation eine wesentliche Rolle. Der Klassenkampf kam per Fahrrad in die Uckermarck. Botho Strauß wäre sich seiner Ruhe also auch damals schon nicht gewiß gewesen.
Im Neuköllner Heimatmuseum sind viele Petitessen, Bilder und Plakate, aber auch allerhand Geschraubtes, aus der abwechslungsreichen Vereinsgeschichte rund ums Rad zu sehen, Nach dem Verbot durch die Nazis kamen die Fahrradvereine nie wieder so recht auf die Beine. Allein im Sport gelangte das Strampeldasein wieder zu voller Blüte, wie ohnehin die Straßenrennen neben der Leichtathletik und Pferderennen die zuschauerintensivsten Sportveranstaltungen der Vorkriegszeit waren. Harry Nutt
Mi. 12–20 Uhr, Do.–So. 11–17 Uhr, Ganghoferstraße 3, Neukölln
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