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Redeverbot für Genosse Keskin

Und er redete doch: gegen Kindervisum und Warteschlange  ■ Von Heike Haarhoff

Die Warteschlange vor der Ausländerbehörde in der Amsinckstraße zieht sich quer über die sechsspurige Fahrbahn. Eine Menschenkette stoppt den Acht-Uhr-Morgen-Verkehr. Einige Fahrer hupen. „Aber die meisten haben Verständnis“, sagt Anne Harms von der Flüchtlingshilfestelle Fluchtpunkt. Sie hat den 15minütigen Protest gegen die katastrophalen Wartezeiten gestern morgen organisiert: „Wir wiederholen das täglich, bis sich die Zustände ändern.“

Drei bis vier Millionen Mark würde die Umstrukturierung kosten, die 250.000 Nicht-Deutschen wie alle anderen Menschen in Hamburg dezentral in den jeweiligen Bezirken zu verwalten. „Viel Geld“, geizte SPD-Fraktionsvize Jan Ehlers am Mittwoch in der Bürgerschaft. Bei den 513 Millionen für die Hafenerweiterung zuckt seine Partei mit keiner Wimper.

Hakki Keskin, SPD-Mann türkischer Herkunft, hält es auf seinem Abgeordneten-Schemel kaum noch aus. Vorn am Rednerpult suggeriert sein Parteikollege Peter Bakker, die Warteschlangen seien selbstverschuldet: „Für die Betroffenen gibt es keine Notwendigkeit, noch vor den Sommerferien eine Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen.“Die Übergangsregelung für die Kindervisumpflicht laufe bis Juni 1998.

Hakki Keskin meldet sich zu Wort. Jan Ehlers sucht ihn zurückzuhalten. Im Namen der SPD-Fraktion: Keskin soll nicht reden. Er tut es doch. Sagt, daß es „ein großer Irrtum“des SPD-Senats war, die Kanthersche Kindervisum-Verordnung zu unterstützen. Erklärt, daß das Problem der Ausländerbehörde struktureller Art sei. Erinnert, daß „auch Nichtdeutsche Steuerzahler sind und Anspruch auf akzeptable Zustände haben“. Sagt, wie es ist. Ruhig, wie er ist. Und daß dies ein „persönliches Statement“sei.

Applaus der Grünen. Wütendes Schweigen auf den SPD-Bänken. Jan Ehlers sucht nach Ausflüchten. Keskin sei ja auch Chef der Türkischen Gemeinde Deutschlands. Da könne es zu einer „Interessenkollision" kommen. Deshalb habe er nicht für die Fraktion sprechen sollen. „Nicht wir lassen ihn stehen, er läßt uns stehen.“Er mit seiner „Abstaubermethode“. Mit seiner „mangelnden Solidarität“.

In der Fraktionssitzung am Dienstag habe „Professor Keskin kein Interesse bekundet, seine abweichende Meinung kundzutun“. Um jetzt „alle mit seiner Rede zu überraschen“. Daß diesem Entschluß ein heftiger Streit mit dem Innensenator vorausging, verschweigt Ehlers. „Konsequenzen“werde das Debakel nicht haben. Denn die hat Keskin längst gezogen: Für die nächste Bürgerschaft kandidiert er nicht mehr.

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