piwik no script img

Total normal

Sind die Deutschen heute endlich ein ganz gewöhnliches Volk unter lauter gewöhnlichen Völkern? Die Ethnographen des Inlands ringen noch um letzte Klarheit  ■ Von Karl-Markus Gauß

Ein Gespenst geht um in Deutschland, es ist das Gespenst der Normalisierung. Ach, „normal“, „Normalisierung“, „Normalität“! Lauter Wörter, die uns vor ein paar Jahren noch verdächtig waren, mit Zwang, Psychiatrisierung, gesellschaftlicher Gleichschaltung assoziiert wurden. Im siebten Jahr der Wiedervereinigung aber verspricht die „Normalisierung“ Deutschlands allen Linderung, die an Deutschland leiden und sich fürchten, noch länger auf spezifisch deutsche Weise leiden zu müssen. Die Normalisierung Deutschlands zur Nation neben den anderen Nationen Europas verheißt nämlich zugleich, daß die Misere der Geschichte zu Ende gehe und die Zukunft keine besondere, keine deutsche, keine unheilvoll nationale mehr sein werde.

Wer Geschichte immer nur als Ausnahmezustand erlebt hat, für den sind die Lockungen der Normalität offenbar erheblich. Selbst Hans Magnus Enzensberger singt in seinem „Nachtrag zur Utopie“, der in der neuen Sammlung „Zickzack“ enthalten ist, schon fast das Hohelied vom braven, stinknormalen Mann, der sich weder von nationalem Größenwahn noch deutscher Selbstzerknirschung angekränkelt weiß und rechtschaffen tut, was ihm eben für sich und die Seinen angebracht erscheint. Weder die nationalistisch entflammten Patrioten noch die routiniert mahnenden Bußprediger, weder die „Rausch- noch die Panikfraktion“ werden recht behalten, sondern jene wenig begeisterungsfähigen Durchschnittsdeutschen, die aus der Geschichte gelernt haben, statt der großen, aber möglicherweise falschen Ideale lieber den kleinen, dafür eigenen Vorteil im Auge zu haben.

Kurz, die Rettung Deutschlands vor den Deutschen wächst in der „praktischen Vernunft“: Sie allein verhindert, daß sich die Nation an den Traum von imperialer Größe verlieren oder aber ganz im Gegenteil in der Selbstbezichtigung, im ewigen Faschismusverdacht versauern wird. Wo die praktische Vernunft des auf moderate Weise egoistischen Bürgers gesiegt hat, dort winken, süßer als Ruhm und Ehre, die wahren historischen Wonnen, die Wonnen der Normalität. Genau besehen, ist es nichts anderes, was Enzensberger mit dem emphatisch gesetzten Begriff der „Gewöhnlichkeit“ verspricht: das Glück, nicht mehr zur Besonderheit verdammt, sondern zur Gewöhnlichkeit privilegiert zu sein.

Was der wachsenden Mitgliederzahl im Verein „Normalisierung e.V.“ verborgen geblieben ist, dürfte die schlichte Tatsache sein, daß es einen normalen Gang von Geschichte und Ökonomie auch außerhalb Deutschlands gar nicht gibt. Welches wäre denn die Nation, deren Entwicklung als einer normalen es nachzueifern gälte? Was entspricht an der Staatswerdung Italiens oder Spaniens, Englands oder der USA einer Norm, die von wer weiß wem – dem Weltgeist? – vorgegeben wurde? Nein, wohin man auch sieht: nichts als besondere, ganz und gar nicht normale Geschichte.

Bleiben dann wenigstens die Wonnen der Gewöhnlichkeit? 1995 machte sich ein junger Ostdeutscher namens Dirk Brauns zu Fuß auf den Weg von Berlin nach München, um Deutschland zu suchen. Was er fand, ist so uninteressant, daß es schon fast wieder überrascht. Nach siebzehn Tagen, von denen nicht viel zu berichten ist, befällt den jungen Deutschen zwischen Blankenstein und Lichtenberg ein „seltsames Gefühl von Ortlosigkeit“: Irgendwo hier muß vor sechs Jahren noch bewehrte Grenze gewesen sein; doch, o Schreck, die Grenze ist nicht nur weg, sondern wie nie gewesen! Keine Narbe in der Natur, kein Graben zwischen den Leuten von Blankenstein und denen von Lichtenberg, keine Spur der eben erst vergangenen Geschichte. Vielmehr, und das ist das patriotische Gefühl, das in dem gesamtdeutschen Wandersmann wächst und wächst: hier wie dort die nämliche Langeweile.

Deutschland, ein Provinzmärchen. Daß es entsetzlich langweilig ist im Lande, diese Klage quengelt aus jedem neueren deutschen Buch, das ein wenig auf sich hält. Gott sei Dank gibt es auch im glücklich wiedervereinigten Deutschland noch die zuverlässig Wahnsinnigen, die bodenständig Irren, die bei Regen im geschniegelten Garten stehen und mit dem Gartenschlauch die Salatbeete spritzen. Oder sich dankbar den Fremden vorknöpfen, um ihn darüber aufzuklären, daß Deutschland den Krieg verloren hat, weil Hitler dazu übergegangen sei, nurmehr Kieselsteine zu essen. Derlei Begegnungen markieren die raren Höhepunkte einer Wanderung, die das Vaterland ansonsten in einem dumpfen, gedrückten Zustand findet – bar der Wonne, doch voll der Schrecken der Gewöhnlichkeit.

Woher diese Langeweile, die über einem Staat zu lasten scheint, der in den letzten Jahren doch von wahrlich dramatischen Veränderungen ergriffen wurde? Ist sie die Strafe oder das Ziel der Normalisierung? Oder ist doch der Osten schuld, daß es in Deutschland auch im Westen gar so fade ist, wie einander die Intellektuellen gähnend bestätigen?

Die ökonomischen Eliten ebenso wie die arbeitenden oder eben nicht mehr arbeitenden Massen bringen die Kosten der Wiedervereinigung gerne aufs Monetäre und berechnen sie nach Mark und Steuersatz. Die Intellektuellen aber scheinen dazu vornehmlich jene alltägliche Kultur zu zählen, die als Erbstück der DDR den trägen Ostdeutschen offenbar ungebührlich lieb geblieben ist. Klare Sache, seit Deutschland wieder einen Osten hat, ist es um ein großes, zähes Stück Provinz reicher; und, ehrlich gesagt, wozu hat man fünfzig Jahre echt weltmännisch auf New York geübt, wenn man jetzt doch mit Mecklenburg identifiziert wird? Da wächst der Grimm. Der 1943 geborene Westberliner Publizist Michael Rutschky etwa ist bekannt dafür, daß er seine Feuilletons als kleine ethnologische Fallstudien anlegt und das eigene Land mit ironischem Blick zu betrachten weiß. Seine Sammlung „Die Meinungsfreude“ birgt denn auch manch feines Fundstück aus dem Alltag; erhellend etwa der Exkurs über die neue deutsche Tränenseligkeit, wie sie sich am auffälligsten in der Form des öffentlich-männlichen Wettweinens manifestiert, einer vormals verpönten, jetzt anerkannten Sitte, die mit dem gewandelten Selbstbild vieler Männer zu tun hat und in Helmut Kohl, dem ersten deutschen Kanzler, der sich staatsmännische Tränen der Trauer oder Ergriffenheit nicht verbietet, schon ihr imposantes Standbild hat. Rutschky, der derlei befremdet notiert, ist also gemeinhin ein distanzierter Beobachter jener fremden Welt, die Deutschland heißt.

Aber wehe, wenn ihm diese Ossis mitsamt ihrer verbiesterten Schwerfälligkeit in das bunte Warenhaus der Westkultur trampeln! Ein luftiger Feuilletonist, wird er dann ganz unelegant grimmig vor Zorn, wenn er etwa ein ostdeutsches Gasthaus zu beschreiben hat, in dem er wegen des Hundes getadelt wird, den er mitgenommen hat und unter dem Tisch Platz nehmen ließ. Derlei war in der DDR offenbar verpönt, und wenn es im Osten noch heute einen stört, daß der Nachbar mit dem Hunde essen geht, dann wird ausgerechnet der deutsche Hund zum Maßstab von internationaler Modernität. Und wer den Hund nicht mag, der erinnert Rutschky an jene anatolischen Gastarbeiter, die es schließlich auch auf sich nehmen mußten, die Pluralität der aufgeklärten Gesellschaft zu akzeptieren. Überhaupt wird der Deutsche aus dem Osten dann rasch zum Migranten im eigenen Land zurückgestuft, der aus der einen in die andere Kultur geraten ist und dessen Beitrag zum Fortschritt es sein wird, daß er sich selber endlich als warnende Verkörperung des Rückschritts erkennen lernt.

Sieht der urbane Wessi den tumben Ossi, wie er eigensinnig im Schlamm der alten Traditionen festsitzt, packt ihn die ungemein provinzielle Panik, in der Welt womöglich selber für einen Provinzler zu gelten. Dafür muß er nicht allein den Ossi hassen, sondern sich auch selber eine kräftige Dosis Modernisierung geben. Wolfgang Pohrt, der sich zur Deutung deutscher Zustände gerne in Amerika umsieht, hat dort in reifem Stadium studieren können, was ihm in Deutschland gerade erst entsteht: daß die Gesellschaft, die sich zersetzt, auf allen ihren Ebenen zurückfällt in eine Herrschaft von Gangs und Banden, die vielerlei Namen der Ehrbarkeit haben mögen. Skandale, wie sie sich zum Gaudium der Öffentlichkeit etwa ereignen, wenn ein hoher Gewerkschaftsfunktionär dabei ertappt wird, daß er seine Arbeit vornehmlich zur eigenen Bereicherung genutzt hat, verdanken sich ja einem Mißverständnis. Dem Mißverständnis nämlich, daß von einem sogenannten Interessenvertreter noch erwartet wird, daß er andere Interessen als die seinen und die seines Clans vertritt. Politische Parteien, Standesorganisationen, Verbände und Vereine sind jedoch etwas gänzlich Beliebiges geworden, Startpositionen, in denen sich einer dank manchem biographischen Zufall befindet und aus denen er sich in den nämlichen Kampf um Macht, Pfründen und Posten zu werfen hat. „Selbst zu dem, was sie selber produzieren, verhalten die Menschen sich wie zu geraubtem Gut. Weil sie die Welt als Beute betrachten, organisieren sie sich in Banden. Und weil das alle tun, verschwimmen die Grenzen zwischen Einflußnahme, Nötigung und offener Gewalt. Enge Beziehungen zwischen Geschäft, Politik und Unterwelt sind dann normal...“

Na ja, was die Normalität ausmacht, darüber sind sie sich noch nicht recht einig: ob zwischen München und Berlin eigentlich steppenlangweilige Provinz oder ein allgegenwärtiges Gangstertum regiert – Ansichtssache; Hauptsache, das einig Vaterland ist dabei endlich ein normales Volk unter lauter normalen Völkern. Zwar trifft man überhaupt eher selten Irre, die sich nicht für normal hielten, aber das ist ja normal.

Hans Magnus Enzensberger: „Zickzack. Aufsätze“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1997. 201 Seiten, 32DM

Dirk Brauns: „Berlin–München. Zu Fuß“. Quell-Verlag, Stuttgart 1997. 137 Seiten, 36DM

Michael Rutschky: „Die Meinungsfreude. Anthropologische Feuilletons“. Steidl-Verlag, Göttingen 1997. 158 Seiten, 24DM

Wolfgang Pohrt: „Brothers in Crime“. Edition Tiamat, Berlin 1997. 224 Seiten, 32DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen