: Irgendwo ist immer wieder Mittelalter
■ Ein Führer durch den alterthümlichen, neudeutschen Freizeithimmel
Das dunkle Mittelalter lohnt sich. Wenn Prinz Luitpold von Bayern zur „Zeitreise“ einlädt und das „größte Ritterturnier der Welt“ verspricht, dann birst das Anwesen Schloß Kaltenberg. Dann verlustigen sich mindestens 100.000 Menschen mit Narren, Flötenbläsern, Feuerschluckern und Bierausschenkern beim Historienspektakel. Andere Veranstalter touren gar durch Deutschland. Der „Schwartenhaiß“ präsentiert: die „Tjoster und Marketenderey und das Heerlager der freien Ritter und wilden Horden“, kurz gesagt: ein „mittelalterlich Spectaculum“ an acht deutschen Orten. Durchaus ortsfremd – wenn man davon ausgeht, daß ein Schauplatz für Ritterspiele eine echte Burg sein müßte.
Denn sie gastieren im Revierpark in Oberhausen genauso wie im Lieher Schloßpark. Unter der Ankündigung „Kramer Zunft und Kurzweyl“ richtet eine „Arbeitsgemeinschaft zur Erhaltung und Belebung mittelalterlicher Kultur“ mittelalterliche Märkte aus. Und das heißt bei dem prallen Terminkalender dieser AG: Irgendwo in Deutschland ist immer mittelalterlicher Markt. Es fließt der Met, Felle oder echte Kuhhörner gehen über die Verkaufstresen, damit man seinen Met auch stilecht aus dem Horn genießen kann.
Der Erfolg des Mittelalters läßt sich daran erkennen, daß die Deutsche Zentrale für Tourismus das Jahr 1998 den „Spuren der Ritter und Fürsten“ widmen will. Oder am Buchmarkt: Neuerdings gibt es Bücher, die diese Veranstaltungen promoten. Und Bücher lohnen sich bekanntlich nur, wenn es etwas anzubieten gibt: im April die Osterspektakel, im Mai Spargelsonntage, Wikingerlager oder Lämmerschwänze-Feste, im Juni Schützen- und Burgfeste, Sonnenwendfeiern und das Schwert des Henkers, im Juli Freilichtspiele und Drehorgeltreffen, Höhenfeuer, Weber- und Brunnenfeste, im August...
Es geht so weiter bis zu den beliebten Klassikern, etwa den Christkindl-Märkten im Dezember. „Das Beste wartet im Himmel“, wirbt das Germanische Nationalmuseum für eine Dezemberausstellung über Renaissancemalerei. Schauplatz ist Nürnberg, die Stadt der Meistersinger und Reichsparteitage.
Ohne Deutschlands Wiedervereinigung, dies sollte an dieser Stelle gesagt werden, würde die Vergangenheit nimmer so großartig boomen. Früher hangelte sich die Bundesrepublik mit den Bad Segeberger Karl-May-Festspielen und dem legendären Pierre Brice zu glanzvollen Heimatspielhöhen hinauf, jetzt gehören die echten deutschen Schauplätze uns allen. Und erst am Brocken ist das Hexentreiben wirklich schön.
Neben allen krausen Kreuzungen aus Mythos, Kommerz, Klamauk und rasselnden Rüstungen vermehren sich aber auch die stilleren Events und Trinkgelage vom Klosterbruderfest bis zu barocken Musiktagen. Gäbe es die neuen Führer durch den altertümlichen Freitzeithimmel nicht, dann müßten sie erfunden werden – als moderne Beiträge zur Heimatkunde. Frei nach Heinrich Heine: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann hat es wieder Spaß gemacht.“ Christel Burghoff
„Historische Feste“. Veranstaltungskalender 1997. Kai Homilius Verlag, Berlin.
„Feste & Ereignisse“. Freizeitführer. Fink-Kümmerly und Frey Verlag, Ostfildern 1996, 19,80 DM
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