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Antrittsbesuch in Leicester

Bemalte Henkelbecher, englische Würstchen mit Tomaten und Übersetzerleiden: Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit dem Soziologen Norbert Elias, dessen Geburtstag sich Ende Juni zum 100. Mal jährt  ■ Von Michael Schröter

Der Satz ,Ich war Assistenz bei Norbert Elias‘ klingt großartiger, als die Situation war. Er kannte in letzter Instanz nur eine Form der Mithilfe: die des lebenden Diktaphons. Daß es lebte, daß es mit Wort und Mimik reagierte, bedeutete ihm etwas ..., aber im Grunde benutzte uns Elias wie eine Selbsterweiterung – man könnte sagen: wie seine Hand.“

Michael Schröter war einer derjenigen, die der Soziologe Norbert Elias, der am 22. Juni 100 Jahre alt werden würde, in diesem Sinne als „Selbsterweiterung“ akzeptierte. Obwohl Elias' Buch über den „Prozeß der Zivilisation“ bereits 1939 erschienen war, begann dessen Wirkungsgeschichte erst mit der Wiederentdeckung Elias' durch die Studentenbewegung. In diese Zeit, etwa 1972, fällt auch die erste Begegnung zwischen Elias und Schröter, der zunächst einige Arbeiten von Norbert Elias übersetzte und später wichtige Werke, darunter die „Studien über die Deutschen“ (1989), herausgab. Die eigentliche Zusammenarbeit begann 1976 und währte 15 Jahre bis zu Elias' Tod. Michael Schröters Beitrag ist ein Auszug aus dem Band „Erfahrungen mit Norbert Elias. Gesammelte Aufsätze“, der in den nächsten Tagen im Suhrkamp-Verlag erscheint. Schröter war 1976 mit der Übersetzung der gesammelten Schriften Anna Freuds, der Tochter Sigmund Freuds, beschäftigt. Um sich ein Nachfolgeprojekt zu sichern, begann er damals, einige Probeübersetzungen für Norbert Elias anzufertigen. Er besuchte zu diesem Zweck Elias in dessen Haus in Leicester. Der folgende Text beschreibt einige Erfahrungen beim Antrittsbesuch.

Das Haus in der Central Avenue war ein zweistöckiges, graues Gebäude mit Flachdach, in einer ordentlichen Mittelklassegegend nicht weit von der Universität und einem Park gelegen, ein bescheidener Außenseiter in einer Reihe typischer Klinkerfassaden. Beim Betreten der Eliasschen Wohnung verschlug es dem Besucher, der auf einen Professor und berühmten Mann eingestellt war, zunächst den Atem. Was in den Zimmern – d. h. in dem Wohn- und Arbeitsraum mit angrenzender schmaler Küche, den ich hauptsächlich zu sehen bekam – den ersten Eindruck bestimmte, war die Unordnung. Ich erinnere mich vor allem an den niedrigen, runden, weißen Tisch am großen Fenster zum Garten: immer überladen mit einem Haufen von Büchern, Papieren, Briefen, an den wenigen freien Stellen bisweilen die Spuren von Kaffeetassen oder Gläsern mit Drinks. Bücherstapel im Zimmer verteilt. Ringsum aber Bilder in kraftvollen Farben (Originale von der Hand eines Freundes), Frauengesichter und auf Kommoden und ebenfalls an der Wand: afrikanische Statuen und Masken. Markante Möbel, ob antiquarisch oder neu. Auch die Gegenstände des täglichen Lebens, mit denen sich Elias umgab – Lampen, Taschen, Besteck und besonders die großen, bemalten Henkelbecher, aus denen er Kaffee trank, weniger seine Kleidung –, waren von einer zwingenden, klaren Kraft. Chaos auf der einen, Gestalt auf der anderen Seite. Inmitten dieses widersprüchlichen Ensembles bewegte sich der Hausherr mit der größten Unbefangenheit, der charmanteste Gastgeber. Unordnung hatte bei ihm nichts Depressives, nichts von schlechtem Gewissen. Sie war ihm, der sich auf anderes konzentrierte, einfach nicht wichtig.

Nachdem wir eingerichtet waren, bereitete uns Elias eigenhändig auf seinem Herd ein Abendessen. Englische Würstchen mit Tomaten. Wir aßen sie in dem kleinen Garten, der zur Hälfte von einem Swimmingpool eingenommen wurde. Wie ich es später viele Male erlebt habe, beteiligte uns Elias sofort an dem, was ihn zur Zeit beschäftigte: sein „Essay on Time“. Er erzählte auch von seiner kürzlichen Begegnung mit Habermas, in Starnberg, der ihn als großer Kopf beeindruckt habe, obwohl er sich nicht mit ihm habe verständigen können.

Das war ein Teil der Kunst von Elias, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen: Er erkundigte sich nach ihren zentralen Interessen, und er zog sie in die Intimität, indem er von seinen redete. Man hörte ihm gebannt zu, weil er von der Bedeutsamkeit seiner jeweils akuten Gedanken, Erfahrungen, Beobachtungen durchdrungen war. Sein Narzißmus wirkte gewinnend, ja ansteckend. So wichtig er sich selber nahm, so sehr konnte er seinem Gegenüber ein Gefühl der eigenen Wichtigkeit einflößen. Im Gespräch mit Elias wuchs jeder, der sich auf ihn einließ, über seine Grenzen hinaus oder lief zu seiner Bestform auf. Mag sein, daß diese Dynamik vor allem bei Jüngeren funktionierte, ich war nicht der einzige, der sich derart bezaubern ließ.

Daß mir als Einzelheit die englischen Würstchen gegenwärtig geblieben sind, ist kein Zufall. Elias lebt in meinem Gedächtnis nicht zuletzt als Ernährer. Von Anfang bis Ende hat er mich in Lokale eingeladen: gemeinsame Essen, vom Golden Egg in Leicester bis zur Knijp in Amsterdam, skandieren die Zeit meiner Bekanntschaft mit ihm. Verborgen unter dieser gern gespielten Rolle lag wohl eine Angst vor dem Hunger, die aus den ersten Jahren seines Exils stammen mochte. Einmal zeigte er meiner späteren Frau und mir, als wir bei ihm in Leicester waren, einen Teil seiner Sammlung afrikanischer Kunst. Die Antilopenhörner, Geister- und Frauenfiguren waren in einer Garage untergebracht, ein schreckliches Durcheinander, das wir vergaßen, als der alte Mann behutsam hindurchstieg, um das eine oder andere Stück herauszugreifen und eine Geschichte dazu zu erzählen. Aber das ist es nicht, was besonders in meiner Erinnerung haftet. Beherrschend darin sind die Plastiktüten, die verstreut zwischen den Schätzen lagen. Sie enthielten – Konservendosen, eine Notration für schlechte Zeiten.

Ich war nach Leicester zum Arbeiten gekommen, und das entsprach den Prioritäten von Elias selbst. Die Idee, eine Probeübersetzung in seiner Nähe anzufertigen, war meine gewesen, Nutzanwendung der jüngsten Erfahrungen mit Anna Freud. Elias gab mir als Vorlage einen Sonderdruck des zweiteiligen Aufsatzes „Sociology of Knowledge: New Perspectives“. Ob ihm von den vorgesehenen Beiträgen seines wissenssoziologischen Bandes dieser momentan besonders wichtig war, weiß ich nicht; eher nein. Ich bekam Papier, eine Schreibmaschine und zog mich in ein Zimmer im 1. Stock seines Gästehauses zurück. Währenddessen arbeitete er (der damals seine Manuskripte meist selber schrieb, und zwar gleich in die Maschine) an seinem aktuellen Projekt weiter, es war der „Essay on Time“.

Die Übersetzung fiel mir nicht leicht. Aus Anna Freuds Korrekturen in meinen bisherigen Textlieferungen hatte ich gelernt, daß ich nicht am englischen Wortlaut kleben durfte, sondern die gedankliche Substanz in mich aufnehmen und zu deutschen Sätzen umformen mußte. Bei ihr ging das einigermaßen und bald immer besser, da ich von Psychoanalyse genug verstand. Der Aufsatz aber, den Elias mir zugewiesen hatte, bewegte sich in den Bahnen seines Denkens, die mir damals noch unvertraut waren. Recht und schlecht produzierte ich ein paar Seiten, die ich mit ihm besprach. Elias war mit meiner Version unzufrieden, tadelte die Freiheiten, die ich mir genommen hatte, modelte Satz für Satz um. Es kam ihm auf Nuancen an, die ich gar nicht sah. Im Endeffekt flößte er mir eine ängstliche Ehrfurcht vor den Buchstaben seines Textes ein, die ich trotz wachsender professioneller Sicherheit nur langsam loswurde.

Zwei Beispiele mögen die Spannbreite seiner Einstellung, ihre Berechtigung und ihre Rigidität verdeutlichen. Ich hatte bemerkt, daß Elias bei anthropologischen Aussagen den Plural men gebrauchte, während deutsches Sprachempfinden mir nahelegte, „der Mensch“ zu sagen. Hier war die Abweichung vom eingeschliffenen Usus, wie ich mich belehren ließ, gewollt und theoretisch begründet („Menschen gibt es nur im Plural“). Andere Male aber ging Elias zu weit. Die Stellung der Satzteile ist im Englischen bekanntlich weniger flexibel als im Deutschen. Deshalb klingt eine Serie von gleichgebauten, vor allem kurzen Sätzen hier monoton, während sie dort nicht gegen das Stil- und Rhythmusgefühl verstößt. Elias hatte kein Verständnis dafür. Er meinte in einem betreffenden Fall: „Wenn ich ein Wort an den Anfang gestellt habe, dann habe ich mir dabei etwas gedacht, dann soll es auch in der Übersetzung am Anfang stehen.“

Der Umgang mit Übersetzungen ist für einen Autor, der die Zielsprache beherrscht, nicht leicht. Unvermeidlich wird ihm sein Werk in der Transformation, bei der Passage durch einen fremden Kopf entfremdet. Elias fühlte die Divergenz, zumal er ein vorzügliches Deutsch und jedenfalls ein markantes Englisch schrieb, sehr scharf. Erst spät rang er sich dazu durch, von seinen Texten genügend Abstand zu nehmen, daß er andere an ihnen arbeiten ließ. Als ich zu ihm kam, war er noch nicht so weit. Er beschnitt mir jeden Spielraum der Wiedergabe. Nur manchmal freute er sich, wenn mir eine Wendung einfiel, die seinem Gedächtnis entschwunden war. Die Wahrheit ist, daß ihm das Übersetzen per se widerstrebte; er hat ja auch nie einen eigenen Text vom Englischen ins Deutsche gebracht oder umgekehrt. Wenn er es versuchte, scheiterte er daran, daß er ihn weiterzuschreiben begann. Das heißt, er konnte ihn weder von der Wörtlichkeit ablösen noch als fertig akzeptieren, wie es die Aufgabe verlangt.

Anna Freud, die selbst viel Übersetzererfahrung hatte, mit fremden und eigenen Sachen, war diesen narzißtischen Problemen besser gewachsen. Als sie mir eine erste Arbeitsprobe mit ihren Änderungen zurückschickte, warnte sie mich: „Jetzt kommt aber die große Frage: Ich weiß, daß man auch als Übersetzer den Wunsch hat, selbständig zu sein und das Ergebnis der eigenen Arbeit ohne viel Einmischung zu produzieren. Als Autor, der die Kenntnis beider Sprachen hat, hat man natürlich den umgekehrten Wunsch: die Übersetzung so nahe als möglich zur eigenen Sprache zu bringen.“ Ich solle „ganz ehrlich“ sagen, ob ihre Stilkorrekturen mir die Freude an der Arbeit störten.

Die Warnung war klug und realistisch, obwohl sie mich nicht beirrte. Der ausdrückliche Hinweis auf den eingebauten Konflikt erleichterte die Kooperation. Während Elias eine unmögliche Eins- zu-eins-Übertragung zu fordern schien, sagte mir Anna Freud einmal, als wir über Originaltreue sprachen: „Ich beschütze nicht jedes Wort.“ Sie trennte die Sprachgestalt stärker vom Sachgehalt und war es zufrieden, wenn der letztere genau und klar in einem ihr vertrauten Stil reproduziert wurde. Es war ein Gegenbild zu dem, was ich mit Norbert Elias in dieser Anfangszeit erlebte.

In einer Hinsicht freilich ließ ich mich vom Autor Elias, den ich bei der gemeinsamen Arbeit am Text kennenlernte, gern über das Modell der Tochter Freuds hinausführen. Er traf sich mit ihr in der uneitlen Haltung zum Schreiben, wo die Sprache nur dem Gedanken zu dienen hat, im durchdringenden Bemühen um Klarheit und Ökonomie des Audrucks. Bei ihm aber kam noch eine merkliche Dosis ästhetischer Lust hinzu, die sich z.B. in einer geringeren Scheu vor bildkräftigen Worten äußerte (nicht zu verwechseln mit dem Übersetzerfehler, einen abgesunkenen metaphorischen Bodensatz fremdsprachiger Wörter hervorzuheben). Hier war Elias der Askese von Anna Freud, wie ich fand, überlegen.

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