: Afghanistan wird Talibanistan
Die radikalen Islamisten schlagen den Usbekengeneral Dostum in die Flucht. Jetzt kontrolliert die Paschtunentruppe neunzig Prozent des Landes ■ Von Ahmad Taheri
Berlin (taz) – Der letzte große Widersacher der afghanischen Taliban ist auf der Flucht. Gestern traf der Usbekengeneral Raschid Dostum in einem Flugzeug in der türkischen Hauptstadt Ankara ein. Zuvor waren die radikal-islamistischen Taliban unaufhaltsam auf seine Hauptquartier im Norden Afganistans zumarschiert. Am Wochenende fiel Dostums Hochburg Masar-e-Scharif in die Hände der Taliban.
Dostum werde „für einige Zeit“ in der Türkei bleiben, hieß gestern in Ankara. Die dürfte länger werden, denn inzwischen kontrollieren die Taliban etwa 90 Prozent des Landes und rücken weiter auf die letzten Rückzugsgebiete ihrer Widersacher vor. Als erster Staat der Welt erkannte gestern Pakistan die Taliban als Regierung Afghanistans an. Die Islamisten in Kabul erfüllten alle Kriterien für eine völkerrechtliche Anerkennung, erklärte Außenminister Goah Ayub Khan. Sie kontrollierten inzwischen den größten Teil des Staatsgebietes und repäsentierten alle Bevölkerungsgruppen des Landes. Pakistan hat die Taliban unterstützt und ausgebildet.
Wenig erfreut zeigte sich die russische Regierung. Die Taliban gefährdeten die Sicherheit Zentralasiens, warnte Außenminister Jewgeni Primakow. Die in Usbekistan und Tadschikistan stationierten russischen Truppen würden im Falle von Grenzverletzungen „sehr hart“ zurückschlagen.
Früher war es Dostum stets gelungen, in den afghanischen Konflikten auf der Siegerseite zu stehen. Als die afghanischen Mudschaheddin 1992 nach vierzehnjährigem Krieg vor den Toren Kabuls standen, wechselte der General, einst die „eiserne Faust“ des Kommunistenchefs Muhammad Nadschibullah, die Fronten. Dafür wurde er vom ersten Staatspräsidenten des islamischen Afghanistan, Sibgatullah Mudschaddadi, mit einem fünften Generalsstern belohnt. Seitdem war Dostum der unangefochtene Herr des afghanischen Nordens. „Padeschah“, „der König“, nannten ihn seine Untertanen. Unbotmäßige Landsleute ließ er von seinem Geheimdienst verhaften oder ermorden. Masar- e-Scharif, die Hauptstadt des Wendehalses, galt als eine Enklave des Friedens inmitten des afghanischen Desasters und als Festung gegen die Taliban.
Doch nicht deren Kanonen haben Dostum zu Fall gebracht, sondern ein Mann aus seinen eigenen Reihen: Vor wenigen Tagen, als die Taliban vor dem strategisch wichtigen Schibarpaß standen, sah General Malik Pahlawan, bis dahin die rechte Hand Dostums, seine Stunde gekommen. Er erhob sich gegen seinen Herren und bemächtigte sich im Handumdrehen dreier nördlicher Provinzen, Fariab, Samangan und Dschozdschan, und hißte die Flagge der Taliban. Grund oder Vorwand für die Revolte war die Ermordung des Brudes des abtrünnigen Militärmannes Razul Pahlawan vor einem Jahr, hinter der seinerzeit Dostum vermutet wurde.
Ausgelöst wurde die späte Rache durch den Wunsch, an der Seite der Sieger zu sein, und noch mehr durch Petrodollars, über die die Taliban reichlich verfügen. Die paschtunischen Krieger haben in den vergangenen Jahren ein Dutzend Mudschaheddin-Kommandanten gekauft. Neben Geldern aus dem Opiumhandel fließen vermutlich Devisen internationaler Ölkonzerne in ihren Kriegskassen . Bereits im Frühjahr 1995 schloß der US-Konzern Unocal gemeinsam mit der saudischen Gesellschaft Delta-Öl ein Abkommen mit den Taliban. Danach dürfen sie eine Pipeline durch das afghanische Bergland bauen, sobald das Land befriedet ist. Die Pipeline soll das turkmenische Erdgas zu den indischen Gewässern befördern. Daß die Taliban dafür Geld bekommen, war zu vermuten. Umsonst vergeben die Paschtunen ihre Gunst nicht.
Nach einer kurzen Unterbrechung in der 250jährigen afghanischen Geschichte beherrschen nun die Paschtunen, die sich als das eigentliche Herrenvolk Afghanistans betrachten, erneut das Land am Hindukusch. Nur noch das entlegene Panschirtal und zwei Provinzen im Nordosten des Landes, Tachar und Badachschan, befinden sich noch in den Händen des gestürzten Regierungschefs Burhanuddin Rabbani und seines Kommandanten Ahmad Schah Massud. Noch vor wenigen Wochen sprach Massud, der „Löwe von Panschir“ davon, man wolle Afghanistan von den pakistanischen Lakaien befreien. Doch in der vorigen Woche räumte ein Sprecher Massuds ein, Panschir sei von Feinden umzingelt. „Legt eure Waffen hin und ergebt euch, auf daß weiteres Blutvergießen vermieden wird“, ließ sich Talibanführer Muhammad Omar al-Mudschahed vernehmen. Wahrscheinlich werden Massud und seine Truppen in den unzugänglichen Tälern des Panschir eine Weile Widerstand leisten können. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis der letzte Posten der verjagten Regierung in die Hände der Taliban fällt.
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