Eine Veränderung gibt's auf jeden Fall

■ Das Ergebnis der französischen Wahlen könnte einen Umbruch einleiten. Für die linken Wahlsieger ist es vielleicht die "Wende". Aber auch für die Konservativen bedeutet es einen personellen Wechsel an

Eine Veränderung gibt's auf jeden Fall

Le changement ist seit Sonntag das meistbenutzte Politikerwort in Frankeich. Von links über konservativ bis rechtsextrem reden alle davon. Bloß bedeutet le changement jeweils etwas anderes, je nachdem, wer es in den Mund nimmt. Für die Linken, die ein unerwartet gutes Wahlergebnis gewärtigen, heißt es „Wende“ oder „Kohabitation“. Sozialistenchef Lionel Jospin kündigte schon einen pacte de changement für eine eventuelle linke Regierung an. Für die Konservativen, die das schlechteste Abschneiden seit Gründung ihrer Parteien UDF und RPR verdauen müssen, heißt es „personeller Wechsel“ an der Spitze einer künftigen Regierung. Damit ist die Jagd auf Alain Juppé freigegeben, und zahlreiche prominente Rechte, darunter der Expremier und gegenwärtige Bürgermeister von Lyon, Raymond Barre, schossen sich gestern bereits auf den unpopulären Kahlkopf ein. Und für die rechtsextreme Front National, deren Wähler zusammen mit den Stimmenthaltern in den nächsten Tagen die meistumworbenen Franzosen sein werden, heißt le changement soviel wie „Abkehr von dem politischen System“.

Zweifellos markierte der Sonntag einen Wendepunkt – nicht nur in einem Wahlkampf, der zuvor vier Wochen lang leidenschaftslos und ohne Bürgerbeteiligung abgelaufen war. Die Parlamentsauflösung und die kurze Kampagne werden die konservativen Parteien begünstigen, so hatten die meisten Franzosen gedacht, Meinungsforscher inklusive. Eh bien: Sie haben sich alle getäuscht. Die liberal- christliche und proeuropäische Regierungspartei UDF bekam mit rund 14,5 Prozent weniger Stimmen als die Rechtsextremen, ihre Partnerin, die neogaullistische RPR von Chirac, lag mit rund 16 Prozent nur knapp darüber.

Die von der Parlamentsauflösung überrumpelten Sozialisten (PS) hingegen machten ihre fatale Niederlage bei den letzten Parlamentswahlen von 1993 wieder wett. Mit knapp unter 24 Prozent sind sie die stärkste Partei. Die Kommunisten, deren „Chef-Mutator“ Robert Hue in aller Eile ein taktisches Wahlabkommen mit der PS unterzeichnet hatte, schafften 10 Prozent. Damit scheint ihre Anfang der achtziger Jahre angetretene Talfahrt zwar zu Ende, doch verschafft ihnen das in einer eventuellen Linksregierung nicht unbedingt eine Position der Stärke. Die Front National schließlich bewies wieder einmal, daß ihre Kraft unterschätzt wird. Landesweit machte sie 15 Prozent – die massiven Kampagenen und großen Demonstrationen gegen die Rechtsextremen sowie ihre magere kommunalpolitische Bilanz haben ihre Wähler nicht beeindruckt.

Auch bei einer näheren Betrachtung sorgt der erste Durchgang dieser voraussichtlich letzten französischen Parlamentswahlen dieses Jahrunderts für Überraschungen. So schaffte nur ein einziger Minister im ersten Anlauf die absolute Mehrheit, die nötig ist, ohne zweiten Durchgang direkt ins Parlament zu kommen. Insgesamt bekamen nur 12 Abgeordnete, darunter ein Kommunist in La Réunion, die absolute Mehrheit. Alle anderen Kandidaten müssen – zum Teil auf ungünstigen Positionen – weiterkämpfen. Besonders hart traf es den Bürgermeister von Paris, Jean Tiberi, der um seine Wiederwahl bangen muß. Aber auch der sieggewohnte einstige Präsident Valéry Giscard d'Estaing muß in der Auvergne erneut antreten. Weiterkämpfen – wenngleich auf aussichtsreichen Positionen – müssen auch Juppé, Jospin, Hue und die grüne Spitzenkandidatin Dominique Voynet.

Außer bei den Rechtsextremen sorgte das überraschende Wahlergebnis gestern auf allen Seiten für eher stille Töne. Präsident Jacques Chirac verbrachte seinen Vormittag zurückgezogen und telefonierenderweise. „Er ist in ruhiger Stimmung und konsultiert“, hieß es aus dem Élysée-Palast. Juppé ließ schon mal prophylaktisch verlauten, selbstverständlich werde die Regierung ihren Rücktritt einreichen. Und die Spitzen der siegreichen Opposition, Jospin und Hue, warnten unisono vor Überschwang.

In den nächsten Tagen werden alle verbleibenden Kandidaten die Reihen enger schließen und nach weiterer Unterstützung suchen. Die Rechte, bei der das Thema Immigration im Wahlkampf lediglich eine Nebenrolle gespielt hat, dürfte es jetzt verstärkt beim Buhlen um die Anhänger der Front National einsetzen.

Am Sonntag begann auch schon das Eindreschen auf die Kommunisten, als befände sich Frankreich wieder mitten im Kalten Krieg. Bei den Linken lautete das Gebot der Stunde gestern: „Wir können gewinnen.“ Wobei die Betonung auf „können“ liegt. Unter anderem werden PS und KPF, die zum Euro divergierende Programme haben, in den nächsten Tagen erklären müssen, wie sie sich eine außenpolitische Regierungszusammenarbeit vorstellen. Attacken gegen Präsident Chirac hat Jospin seit Sonntag nicht mehr gewagt – möglicherweise muß er schon nächste Woche mit ihm regieren.