Siege holt man nicht auf dem Platz

Marcello Lippi, Trainer von Juventus Turin, will beim heutigen Europacup-Finale gegen Borussia Dortmund nicht der klare Favorit sein, der er ist  ■ Von Matti Lieske

München (taz) – Die Voraussetzungen beim Finale der Champions League heute abend in München (RTL, 20.30 Uhr) könnten kaum unterschiedlicher sein. Auf der einen Seite Juventus Turin, ein Klub, bei dem eitel Sonnenschein herrscht und dem zu einer rundum gelungenen Saison bloß noch der Landesmeister-Cup fehlt. Als neuer italienischer Meister ist die Mannschaft bereits für die nächste Champions League qualifiziert, das Finale erreichte „die beste Vereinsmannschaft der Welt“ (Analysator Beckenbauer) mit teilweise berauschendem Fußball. Gespickt ist sie mit Spielern, die wissen, wie es ist, in einem Champions-League-Finale zu stehen und dieses zu gewinnen, einige, wie Didier Deschamps (mit Marseille und Juve) oder Vladi Jugovic (mit Belgrad und Juve), hielten den Landesmeister-Cup sogar schon zweimal in Händen. Der weißhaarige, politisch links angehauchte Trainer Marcello Lippi sitzt fest im Sattel und erntet höchstes Lob von allen Seiten, nicht zuletzt von Giovanni Trapattoni, der selbst 13 Jahre lang bei Juve wirkte. Lippi, so der Bayern-Coach, sei ein „Alchimist des Fußballs“.

Auf der anderen Seite Borussia Dortmund. Von der Meisterschaft weit entfernt, gerade mal für den Uefa-Cup qualifiziert, zerstritten, schlechtgelaunt, verunsichert. Trainer Ottmar Hitzfeld verspürt sogar „Weltuntergangsstimmung“. Der letzte internationale Titel liegt fast so lange zurück wie der von Schalke vor Mailand, und das Halbfinale der Champions League wurde weniger dank eigener Großtaten als vielmehr wegen der Unfähigkeit des Gegners Manchester United gewonnen. In der Bundesliga gab es zuletzt eine 1:2-Niederlage beim HSV (!), und die Klubführung beteuert so oft, zum Trainer zu stehen, daß einem um diesen angst und bange werden kann. „Wir können frei aufspielen“, sagt Deschamps, „für sie dagegen geht es um alles.“ Unter anderem um 32 Millionen Mark. So viel haben die Dortmunder in dieser Champions-League-Saison eingenommen.

Auch wenn Lippi die Borussen wegen des angeblichen Heimvorteils zu 60:40-Favoriten erklärt, halten es die meisten wohl eher mit Trapattoni, der die Dortmunder in einem Interview der Gazzetta dello Sport als klare Außenseiter sieht. „Juventus kann sich kleine Fehler erlauben, die Borussia aber muß die beste Partie ihrer Geschichte spielen.“ Fast immer, wenn die beiden Teams in den letzten Jahren aufeinandertrafen, gab es für die Deutschen etwas auf die Mütze. Das schürt Überheblichkeit, und die Turiner Spieler wissen, daß diese ihnen am ehesten zum Verhängnis werden kann. „Sie sind gut, und sie kennen uns genau“, warnt Jugovic davor, das Match „nur als Formalität“ anzusehen, wie es die Tifosi täten.

„Wir müssen sie dort treffen, wo sie Schwierigkeiten haben: mit Schnelligkeit und Tempowechseln“, sagt der Ex-Juventiner Paulo Sousa, der sich heute mit Dortmund jenen Cup zurückholen will, den er im letzten Jahr mit Turin gegen Ajax gewann. Der Portugiese ist nicht besonders gut auf den Klub der Familie Agnelli zu sprechen, bei dem es zugeht wie in der Deutschen Eishockey-Liga und jedes Jahr ein beträchtlicher Teil des Kaders ausgetauscht wird. Wenn Lippi den großen Besen hervorholt, spielen Namen keine Rolle. Anstelle der Herren Baggio, Vialli, Ravanelli, Möller, Cesar oder Sousa wirbeln heute Zidane, Boksic, del Piero sowie die begabten Jünglinge Vieri und Amoruso.

„Juve hat keine Identität“, schimpft der Portugiese, Giovanni Trapattoni sieht das Geschäftsgebaren beim italienischen Rekordmeister positiver: „Durch Fernsehen, Marketing und Bosman-Urteil haben wir uns dem amerikanischen Sportmodell angenähert.“ Juve habe sich dem schneller als alle anderen angepaßt. „Heute“, meint der Meister-Coach, „holt man Siege vor allem außerhalb des Platzes.“ Man darf nur nicht vergessen, die nötigen Tore zu schießen. Und das geschieht nach wie vor auf dem Platz.