: Gegen Aufgabe des Sozialstaats
■ Auf dem Fürsorgetag in Leipzig plädiert Rita Süssmuth für den Erhalt der Sozialstaatsidee. Verdeckte Armut im Osten
Leipzig (epd/dpa) – Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth hat davor gewarnt, die sozialen Aufgaben auf allen Ebenen zu privatisieren. Auf dem gestern eröffneten Fürsorgetag in Leipzig sagte sie, „die Privaten dürfen sich nicht die Rosinen rauspicken, während die öffentlichen Verbände vor kaum lösbaren Problemen stehen“. Dies seien „nicht vertretbare Rahmenbedingungen“.
Die Sozialstaatsidee dürfe trotz des finanziellen Debakels nicht „leichtfertig aufgegeben werden“. Rita Süssmuth forderte, sich intensiver den Fragen zur Finanzierung von Arbeit zu widmen, statt Arbeitslosigkeit zu bezahlen. Die Christdemokratin nannte es „einen Ungeist, Menschen als Kostenträger auf zwei Beinen zu sehen“. Gleichzeitig sprach sie sich auch für eine Vereinfachung der Sozialbürokratie aus.
Besorgt zeigte sich Rita Süssmuth über den Mangel an Solidarität. Mittlerweile sei das „tiefe Verständnis für Wohlfahrt verlorengegangen“. LehrerInnen seien heutzutage meist die Reparateure von Erziehungsfehlern und Vernachlässigung. Anstelle der Fürsorge für Schwächere werde das Faustrecht immer stärker. „Ohne Charakter sind die Köpfe sehr gefährlich“, sagte die Bundestagspräsidentin.
In Leipzig diskutieren rund 2.000 Fachleute aus allen sozialen Bereichen über das Thema: „Integration fördern, Ausgrenzung verhindern“. Gestern standen vor allem die Befürworter von weiteren Sozialkürzungen in der Kritik. Schon jetzt flössen nur zwei Prozent des gesamten Sozialbudgets von einer Billion Mark, die in die Sozialversicherung eingezahlt werden, in die Sozialhilfe. In spätestens zwei Jahren würden die heute mehr als 4,6 Millionen Arbeitslosen stark auf die Sozialhilfe drücken, hieß es. Im Osten der Republik ticke eine Zeitbombe, waren sich die TeilnehmerInnen einig. Vorgestellt wurde gestern der erste Armutsbericht für den Osten. Darin heißt es, daß zwar die Quote der SozialhilfeempfängerInnen mit 1,8 Prozent weitaus niedriger als im Westen mit 3,6 Prozent liege. Doch kämem im Osten auf 10 HilfeempfängerInnen 17 Menschen, die in der sogenannten verdeckten Armut leben. Ihnen würden zum Teil die Informationen über ihre Ansprüche auf Sozialhilfe fehlen. Der Vorsitzende des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge, Manfred Scholle, wandte sich kategorisch gegen den Einsatz von „Sozialdetektiven“. Solche Art von „Schnüffelei“ störe nachhaltig das Vertrauensverhältnis zwischen SozialarbeiterInnen und ihrer Klientel. Nach Schätzung des Vereins leben etwa 2,5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik von der Sozialhilfe, etwa ein Drittel von ihnen sind Kinder.
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