Ein Fluß schlängelnder Leiber

■ Tanz bei Nachwuchsfestival „Sprungbrett“: Die Rotterdamer Dansakademie überzeugte im Schauspielhaus

Dem Idealbild der grazilen Tänzerin entspricht Shila Anarki nicht: wilde Locken, breite Schultern, durchtrainierte Oberschenkel statt einer Ballerina-Statur. Einen Moment lang scheint sie in den Armen ihres Romeos dahinzuschmelzen. Dann aber stampft sie auf, daß die Bühne kracht, während im Hintergrund die Beastie Boys dröhnen.

Der moderne Tanz, den Shila und die anderen Studierenden der Rotterdamer Dansakademie am Sonntag im Schauspielhaus auszugsweise vorstellten, ist von aufregender Gestalt. Mit ihren Choreographien hat die Rotterdamer Tanz-Universität bei der „Sprungbrett“-Reihe des Jungen Theaters einen bestechenden Eindruck hinterlassen. Die sechs Jahresabschlußarbeiten junger ChoreographInnen überzeugten vor allem durch ihre Vielschichtigkeit und Dynamik.

Inhaltlich und optisch mußten sich die zahlreichen Zuschauer allerdings von herkömmlichen Ideen des klassischen Tanzes lösen. Schon bei der Auftakt-Choreographie „Come Across“wurde deutlich, daß mit klassischen Tanzbildern aufgeräumt werden soll. Die Frauen wirbelten die Männer durch die Luft. Graziöse Drehungen wurden angedeutet, Sprünge wurden angedeutet und klangen dann in zuckenden Bewegungen aus.

Die Internationalität bestimmt das Programm an der Dansakademie. Praktika im Ausland sind Teil der zwei- bis vierjährigen Ausbildung. Die klassisch-europäische Tanztradition ist da nur eine von vielen. Daß die Schule davon profitiert, wurde bei Raffaela Galdis muttersprachlichem Italienisch-Intro zur Tanzminiatur „Insects“deutlich. Diese Einlage erzeugte mindestens so viel Spannung wie der sich anschließende Geschlechterkampf auf dem Bühnenboden.

Auch „Earth Apples“von Itzik Galili verdankte einen Teil seiner Ausdrucksstärke den erdigen Elementen traditioneller lateinamerikanischer Rhythmen und Bewegungen. Die politischen Töne der argentinischen Volkssängerin Mercedes Sosa trugen die Szene. Wenn die Sosa von „Cambio“sang, formierten sich die acht „Indigenas“, um der Veränderung in synchroner Einheit zu begegnen. Menschliche Körper formten Wellen, ein Fluß aus sich schlängelnden Leibern erwuchs vor dem Auge wie Arbeiteraufstände und Feldarbeit. Weil aber das Experimentelle in einen traditionellen Rahmen eingebunden wurde, blieb es nachvollziehbar. Auf wiederkehrende Motive bedachte Geschichten, die eine Einheit zur jeweils gespielten Musik bildeten, bestimmten die Szenerie.

Einzig „Skunk“von Nanine Linning brach völlig mit dem synchronen Tanzen. Gemeinsam mit Nine Schreinemacher lieferte die Choreographin und Tänzerin den Beweis dafür, daß auch Asynchronität voller Harmonie sein kann. Zu Radiogeräuschen begann der Tanz der beiden Protagonistinnen im fahlen Licht einer Glühbirne. Im Halbdunkel ertastete jede für sich ihre Körperstrukturen. Die Möglichkeit der Bewegung war entstanden. Aus dieser gemeinsamen Idee entwickelten sich die absichtlich um Sekundenbruchteile verzögerten Begegnungen der Tänzerinnen.

Auch das letzte Stück des Abends, „Ph-Neutral“, geizte nicht mit Innovationen. Fortwährend lechzten die zwei mit schlecht sitzenden Perücken und Abendgarderobe bestückten Paare laut stöhnend nach einem gewissen „Anthony“. Der kraftvolle Partnertausch gipfelte in einer Parodie auf einen niederländischen Toilettenpapier-Werbespot. Dieser Crossover von abstraktem Tanz und Persiflage gelang jenseits des Klamauks. Er war Abschluß und Höhepunkt eines Abends, an dem sich die Tanz-Studierenden wie Profis geschlagen hatten. Lars Reppesgaard/

Miriam Rössig