: Katzenjammer Von Carola Rönneburg
„Das ist jetzt wirklich ein bißchen zuviel.“ Herr Basgier verdreht die Augen, sinkt erschöpft in seinen Sitz zurück und greift nach einer weiteren Zigarette. Wir befinden uns auf der Bahnfahrt nach Annecy, wo wir mehrere Tage lang Animationsfilme gucken wollen, und soeben mußten wir unsere reservierten Plätze aufgegeben, weil eine Mitreisende nicht davon abzubringen war, uns laut aus der Bild-Zeitung vorzulesen. „JETZT ZÜNDEN SIE SCHON KIRCHEN AN!“ wiederholte die Frau solange, bis wir unser Gepäck erneut schulterten und die Flucht nach vorn antraten. Das heißt, eigentlich schulterte nur ich: während unserer letzten Reise hätte der Kollege fast seinen linken Arm eingebüßt, weil der Schulterriemen seines übergewichtigen Seesacks die Blutzufuhr nachhaltig störte. Seitdem rangiert er auf ärztlichen Rat einen Rollenkoffer, und eben dieses sperrige Gerät hatten wir gerade verstaut, als ein Seniorenpaßinhaberpaar unser Abteil stürmte, seine Tüten und Taschen auf den freien Sesseln auftürmte und sich entrüstete: „Die rauchen!“
Jawohl, wir rauchen. Im Raucherabteil. Und wir freuen uns schon auf unser Stammcafé in Annecy, wo die freundliche Betreiberin eine Palme vor ihr Rauchverbotschild geschoben hat und uns auch in diesem Jahr wieder einen Aschenbecher auf den Tisch stellen wird. „Das muß jetzt so sein“, beruhige ich Hern Basgier, „am Anfang passieren lauter unangenehme Dinge, damit es nachher nur noch besser werden kann.“ Wie um meine Theorie zu bestätigen, steigt kurz hinter Genf eine Frau zu, die im Verlaufe der nächsten Stunden vor dem Großraumwagen randaliert und sich energisch bemüht, eine der Zugtüren einzutreten. Da niemand weiß, was noch geschehen wird, entfernen mehrere Reisende ihr Hab und Gut aus dem Umfeld der Dame.
Dann wird alles gut. In Annecy herrschen hochsommerliche Temperaturen; die nächste Woche pendeln wir beseelt zwischen dem Kino und dem Nichtrauchercafé, zwischen Kino und Restaurant sowie zwischen Kino und einer Bar mit Spätausschanklizenz. Das Festival von Annecy ist das Cannes der Animationsfilmer – ohne Galatreppe und vor allem ohne die Spice Girls. Am späten Abend werden hier in der Bar erregte Debatten über die Frage geführt, ob Kakerlakenfilme in die Öffentlichkeit gehören bzw. ob Kakerlaken, die in einer Toilettenschüssel ein Wasserballett aufführen, einen Trickfilmpreis verdienen. Als geradezu fanatischer Kakerlakenverächter ist Herr Basgier dagegen. Ich stimme dafür: „Außerdem können sie sehr schön singen.“
Mit dem Abschluß der Trickfilmtage holt uns die Wirklichkeit wieder ein. Im Nichtrauchercafé gesteht Madame, daß sie im nächsten Jahr in den Ruhestand gehen will. Am Morgen der Rückreise – hat die Stadt den Wettervertrag nur bis zum Festivalende abgeschlosssen? – regnet es. Das Hotel hat den Weckruf vergessen, und unser Zug ist just abgefahren. Ein Taxi bringt uns nach Genf, wo wir auf unseren Anschlußzug und ein letztes Mal auf andere Festivalteilnehmer treffen. Von ihnen erfahren wir, daß die Kakerlakendebattenbar in der Nacht ausgebrannt ist. Katzenjammernd schleichen wir über den Bahnsteig. „Das ist jetzt wirklich ein bißchen zuviel“, findet Herr Basgier.
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