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Die Sprache des Überlebens

Der Tod war nur das Zucken eines Nervs entfernt. Wie spricht man mit seinem potentiellen Mörder?  ■ Von Ariel Dorfman

Im Juni 1986 gesellte ich mich eines schönen Abends zu den Hunderten von Menschen, die sich auf der Plaza Italia in Santiago de Chile versammelt hatten. Offiziell wollten wir nur den Kometen Halley verabschieden, in Wirklichkeit aber baten wir den Kometen darum, General Augusto Pinochet, den chilenischen Diktator jener Jahre, mit sich in den Weltraum zu nehmen und ihn auch bei seiner Wiederkehr in 76 Jahren nicht wieder mitzubringen.

Tyrannen lassen sich nicht gern veralbern, und Pinochet war keine Ausnahme. Unsere Versammlung wurde schnell von Soldaten aufgelöst. Ein langer Leutnant mit funkelnden Augen und Hakennase, sein Gesicht mit öliger Schmiere geschwärzt, sorgte dafür, daß keiner von den Gewehrkolben seiner Soldaten vergessen wurde. Als sie mit dem Niederknüppeln fertig waren, riet er uns, schleunigst zu verschwinden.

Wir rannten die Avenida Providencia hoch, so gut es eben ging, humpelnd und blutig. Weil ich älter war als die meisten und mein Bein mir weh tat, blieb ich etwas zurück und war deshalb allein, als ein junger Rekrut mich anhielt. Er war bestimmt nicht älter als Zwanzig, vielleicht sogar jünger. Er richtete seine Maschinenpistole auf mich, seine zitternde Hand am Abzug. „Bleib mir vom Leibe!“ bellte er. „Hände hoch und fünf Meter Abstand, fünf Meter, fünf Meter weg!“ „A cinto metros“, sagte er, verrückt, panisch, nahezu flehend. Der Tod war nur eine kleine Nervenreizung, das Zucken eines Nervs entfernt. Während ich langsam die Hände hob, hatte ich einen Geistesblitz.

Ich begriff, daß dieser junge Mann, der kurz davor war, sein Leben zu ruinieren – und ganz gewiß meines –, indem er mich von der Erde tilgte, nicht wirklich die Person wahrnahm, die zu erschießen er im Begriff war, er sah nicht meinen nutzlosen Körper, meine leeren Hände, meine totale Verwundbarkeit. Ich begriff, daß dieser junge Mann, so unglaublich es schien, schreckliche Angst vor mir hatte und daß, wenn er den Abzug bedienen würde, diese Angst daran schuld war. Seine Vorgesetzten hatten ihn davon überzeugt, daß er von einer fremden Macht bedroht sei, und jetzt war ich zur Repräsentation dieser Macht geworden, so unwahrscheinlich das auch war. Um mich zu retten, tat ich das, was ich mein Leben lang perfektioniert hatte: Ich versuchte, mit ihm zu kommunizieren.

Freundlich und nahezu normal sagte ich, er solle doch mal hinsehen, ich hätte nicht einmal eine Süßigkeit in der Hand. Ich sagte den Namen der Süßigkeit, „una negrita“, die ich als Kind oft gegessen hatte und die auch er als Kind gewiß gelutscht hatte, als ob ich ihn an seine und meine Unschuld erinnern wollte – unser beider Unschuld, die so leicht zu verlieren ist. Dann sagte ich, daß ich zwei Söhne hätte, der eine ein bißchen älter als er, der andere etwas jünger, daß sie zu Hause auf mich warteten, ich fragte ihn, woher er sei – redete irgend etwas, um eine Beziehung zwischen uns herzustellen, ihm näherzukommen, näher als die fünf Meter, die er wollte und brauchte, um mich umbringen zu können. „Halt den Mund!“ sagte er, und ich gehorchte.

Wir blieben noch ein paar Sekunden länger so da; und mir wurde schmerzlich bewußt, wie verschieden wir waren; er war arm und ungebildet, ich nicht so arm und gut mit Worten; er hatte indianische Vorfahren, und meine Leute kamen ganz offensichtlich von woanders her, aus dem Europa, das ihn sein Leben lang ausgeschlossen hatte; das Leben hatte ihn nicht gut behandelt, und jetzt konnte er den Spieß umdrehen und jemanden durch seine Macht für immer zeichnen.

Aber er tat es nicht. Statt dessen zwinkerte er etwas, und ich sah, wie etwas Brutales und Trauriges aus seinen Augen verschwand und versickerte, er atmete tief, als ob er seine Lungen von einer dunklen Wolke befreite, er ließ die Waffe sinken und machte eine rasche Handbewegung, die mir bedeutete, mich schleunigst davonzumachen.

Dem Kometen Halley an jenem Abend auf Wiedersehen zu sagen war für meine Physis gewiß kein Genuß gewesen, aber ich hatte etwas über den Charakter der Intoleranz gelernt. Ich hatte immer schon geglaubt, daß es Angst ist, was zu Gewalt führt, aber ich wußte es nur theoretisch. Und jetzt hatte ich diese Theorie in einem konkreten Menschen verkörpert gesehen. Ich war das potentielle Opfer dieser Angst gewesen und hatte mit dem Schmelzen dieser Angst auch die Gewalt verschwinden sehen, hatte überlebt, weil ich den Soldaten hatte überzeugen können, daß ich weder gefährlich noch so schrecklich anders war. Meine Worte hatten den Kreis der Isolation durchbrochen, den er um sich geschlagen hatte.

Um in Kontakt mit seiner Menschlichkeit zu kommen, sein Einfühlungsvermögen zu wecken, hatte ich Worte benutzt, hatte ich unser gemeinsames Vokabular benutzt, um seine Haut an die Stelle meiner Haut, seine Augen an die Stelle meiner Augen zu setzen, die Welt aus meinem Blickwinkel zu sehen. Das ist, was Kunst, was Literatur macht. Und Kinder, die zusammen tanzen, können sich nicht so leicht gegenseitig in den Straßen abschlachten.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß ich in jener Nacht zu meiner Rettung die Sprache benutzte, einen Raum herstellte, in dem jener Soldat mich als menschliches Wesen wahrnehmen konnte. Denn ich bin in meinem Leben selbst auf extreme Weise intolerant gewesen – und das Instrument meiner Intoleranz war die Sprache.

Inzwischen bin ich vollkommen zweisprachig, aber als Kind in New York, aus meiner Heimat Argentinien exiliert, verwarf ich die spanische Sprache, in die ich hineingeboren war, mit entschiedenem Fanatismus, verachtete alles, was mit meiner eigenen Muttersprache zu tun hatte, und weigerte mich alles in allem zehn Jahre lang, Spanisch zu sprechen.

Meine Rückkehr nach Lateinamerika verführte mich langsam wieder zum Spanischsprechen – bis ich schließlich viele Jahre später, inspiriert vom Nationalismus eines „Alles oder nichts“ der sechziger Jahre, das Englische mit derselben Absolutheit ablehnte, wie ich es als Kind mit dem Spanischen gemacht hatte. Es kostete mich viele Jahre, bis ich zum Englischen zurückkehren konnte, ohne meinem Spanisch abzuschwören; es hat einen großen Teil meines Lebens gedauert, bis ich meine Zweisprachigkeit als Bereicherung akzeptieren konnte, und es dauerte nahezu eine Ewigkeit, bis ich die Angst verlor, die mir meine eigene Dualität einflößte. Es hat viel zu lange gedauert, bis ich begriff, daß ich die Pluralität der Welt erst würde annehmen können, wenn ich sie in mir selbst tolerieren kann.

Vielleicht proklamiere ich deshalb als eine der Lösungen für das Dilemma der Intoleranz den richtigen Gebrauch von Sprache.

Und dennoch bin ich mir natürlich dessen bewußt, daß die gemeinsame Sprache – wenn man sie mit jemandem teilt, der einen als Feind betrachtet – keine Garantie dafür ist, daß der andere dich nicht trotzdem vernichten will. Ich habe die deutschen Juden nicht vergessen und nicht die bosnischen Muslime und nicht all die anderen Menschen, die wegen ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, sexuellen Ausrichtung oder Stammesherkunft massenhaft umgebracht wurden von Männern, die dieselbe Sprache sprechen und noch kurz zuvor vielleicht dieselben Kinderlieder sangen. Was den anderen zur Bedrohung macht, könnte genau dies sein: daß er oder sie teilhat an unserer Gedankenwelt. Vielleicht bringen wir den anderen um aus der Angst, zu werden wie er.

Meine Taktik gegenüber dem jungen Soldaten in jener Nacht in Santiago hätte auch danebengehen können: Ich hätte genausogut ein Wort sagen können, das ihm Schuldgefühle eingeflößt, Gefühle der Unreinheit, Unvollkommenheit ausgelöst hätte, das ihn an ein vergiftetes Bild in seinem Inneren hätte erinnern können, das er verzweifelt auslöschen wollte. Ich hätte meinen eigenen Tod auslösen können, meine versöhnenden, vertraulichen Worte hätten ihn geradezu zwingen können, jenen intoleranten und untolerablen Akt zu begehen, den Abzug zu ziehen.

Und dennoch – er tat es nicht.

Er sah mich – der ich einer anderen Klasse und einer anderen Rasse angehöre, mit anderer Haut- und Augenfarbe – als Mitglied seiner eigenen Gruppe an oder vielleicht nur als Mitglied derselben Gattung. Er sah mich als Menschen und ließ mich gehen.

Er hatte seine eigene Angst überwunden. Und für einen Moment, der vielleicht eine Ewigkeit gedauert hat, war dieser junge Mann nicht mehr intolerant.

Aber das Verschwinden seiner Intoleranz wurde errungen durch die Auslöschung meiner Identität; ich hatte ihn besänftigt durch den Versuch, loszuwerden, was ihm an mir bedrohlich war und was ihn mich hätte umbringen lassen. Insofern war meine Aktion in jener Nacht zwar eine gute Überlebensstrategie, aber keine, die ich für eine länger dauernde Existenz miteienander empfehlen wollte. Denn wirkliche Koexistenz etabliert nicht nur unsere Gleichheit und Brüderlichkeit, sondern muß zugleich mehr kreieren als nur einen Spiegel, in den der Stärkere sieht und sich selbst erblickt. Vielmehr müssen wir zu einer Anerkennung und vor allem Achtung unserer Verschiedenheit kommen. Wir müssen über die reine Toleranz hinaus zu Anerkennung und Dialog finden: Frieden ensteht nur durch einen Akt gegenseitigen Anerkennens.

Ob der Soldat mir das Leben schenkte, weil ich war wie er oder weil ich anders war als er, ob wegen der Sprache oder trotz der Sprache, ob er es tat, weil er mich verstand oder weil er mich mißverstand: Aus welchen Grund auch immer – letztlich war es so, daß zwei Menschen auf einer von Krieg heimgesuchten Straße in Santiago de Chile aufeinandertrafen und der eine den anderen nicht umbrachte – und der Mann, dessen Leben ihm nicht genommen wurde, diesen Soldaten nie mehr vergessen hat.

Das ist als Lehre aus dieser kurzen Begegnung jener Nacht zu ziehen, in der der Komet Halley General Pinochet nicht mitnahm – aber eben auch mich nicht, sondern mich am Leben ließ, auf daß ich mich fragen kann, ob unsere Erde, wenn er im Jahre 2062 wieder erscheint, endlich zu einem Ort geworden ist, in dem Geschichten wie diese überflüssig und unnötig geworden sind.

Das ist das mindeste, was ich für jenen jungen Mann tun kann.

Der Schriftsteller Ariel Dorfman ist zur Zeit Professor für Literatur und Lateinamerikanische Studien an der Duke University in Texas. Er ist Autor des Theaterstücks „Der Tod und das Mädchen“, das kürzlich auch verfilmt wurde.

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