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Rilke beim Schauen zuschauen

■ „Rainer Maria Rilke und die bildende Kunst seiner Zeit“: Eine synästhetische Ausstellung in der Böttcherstraße

Der Cezanne-Kalender vom netten Apotheker rechts um die Ecke oder das Degradieren jeder Picasso-Ausstellung zum (bloß noch!) gesellschaftlichen Event drohen unseren Zugang zur klassischen Moderne zu verstopfen. Wo ein direkter Weg versperrt ist, gilt es Schleichwege aufzuspüren. Warum eigentlich nicht einen über Rainer Maria Rilke einschlagen?

Nach dem Clemens-Sels-Museum in Neuss und der Münchener Villa Stuck zeigen nun auch die Kunstsammlungen Böttcherstraße, ja, eben nicht (nur) Picasso, Cezanne, Rodin, Degas, Signac, Modersohn-Becker, sondern Rilkes Blick auf Picasso, Cezanne und die anderen. Sie zeigen, wie ein permanent höhenflugsüchtiges, doch zerknirschungsbedrohtes Individuum in und mit und durch Kunst lebte. Sie zeigen, wie ein Beteiligter quasi aus nächster Nähe einige Phasen der klassischen Moderne erlebte.

Viel Text ist zu bewältigen bei der Ausstellung „Rainer Maria Rilke und die bildende Kunst seiner Zeit“. Auf den schönen, lesefreundlichen Textbändern, die da neben Signac-Lithos, mystischen Klinger-Radierungen oder hochkarätig-schwergewichtigen Rodins hängen, ist aber keineswegs die Rede von Rilkes Worpswede-Aufenthalt, nicht von seiner Ehe mit Clara Westhoff, nicht von seinen 14 Rezensionen im „Bremer Tageblatt“, nicht von seinem Engagement für den Bremer Kunstverein, nicht von seinem Nomadisieren zwischen München, Paris, Rußland. Alles kunsthistorische Beiwerk wird in den Katalog verbannt. Denn hier soll es nicht um Wissen gehen, sondern um Erleben, genauer noch: um Nachleben. Abgesehen von ein paar knappen Lebensdaten am Anfang und am Ende der Ausstellung kommt also ausschließlich Rainer Maria Rilke zu Wort.

„Es ist schön ihn arbeiten zu sehen. Man glaubt all die Wege seines Blicks... ein Netz in die Luft bilden zu sehen, darin sich das Ding immer mehr verfängt“, heißt es über Rodin. Auch die Ausstellung will die Blicke ihrer Besucher auf Wege schicken, Vernetzungen herstellen, zwischen Wort und Bild, Bild und Raum. „Du weißt, wie ich auf Ausstellungen immer die Menschen, die herumgehen, so viel merkwürdiger finde als die Malereien“, liest man in einer Vitrine – und nimmt plötzlich in deren Glasspiegelung Gesichter wahr, lesend, schauend, neugierig, gelangweilt.

Aber was kann uns heute interessieren an Rilkes Sehweise? Rilkes Zugang zur Kunst, ist nicht der eines Kritikers, Einordners, Zurichters (Ausnahme: die Abkanzlung der pathoserotischen Bilder Ludwig Hofmanns), sondern der eines Fans, der Überwältigung sucht, „ganz erfaßt von der Macht, die diese Blätter über mich haben“. „Das gute Gewissen dieser Rots, dieser Blaus, ihre einfache Wahrhaftigkeit“, traut er sich zu schreiben, mehr schwärmend als denkend. Wie in seinen Dinggedichten sucht er das Begreifen nicht auf einer Metaebene der Erklärungen, sondern im genauen Beschreiben, in einer Wahrnehmungsschärfe, der kein Detail entgeht, nicht der Abdruck einer Ferse im Oberschenkel, nicht die Haltung der Finger. Und manchmal nimmt er den Umweg über die Metapher, spricht von „Fingern, gebogen wie eine Jericho-Rose“, von einer Gebärde, die „wie in einer harten Knospe eingeschlossen ruht“. Und der Ausstellungsbesucher wird so zum Kind, dem alles zweimal gesagt wird – mal in Worten, mal im Bild – auf daß es endlich begreift. Nicht nur formale Aspekte interessieren ihn, sondern auch und vor allem inhaltliche: Was für ein Leben ist den klumpfüßigen Balletteusen eines Degas zugemutet worden? Welche Geschichten erzählt der schiefe Greisenkopf einer Rodinplastik. Bilder und Plastiken schaufeln für Rilke einen Zugang zum Leben frei. In welcher heutigen Kunstrezension ist davon noch zu spüren?!

Der Zeitgenosse sieht weniger, er sieht mehr. In den vielen Äußerungen über Paula Modersohn-Becker nimmt Rilke den Mut zum ganz Anderen, das Abenteuer des Aufbruchs wahr, wo der heutige Kunstbetrachter Cezannismus, zur Ruhe gekommenen Impressionismus erblickt.

Gerne sieht Rilke seinen Künstlerfreunden beim Schauen zu, bewundert zum Beispiel Otto Modersohns geduldiges Beobachten, und wir können Rilke folgen beim Schauen des Schauens und sehen weiter als bisher.

Die meisten der Zitate stammen aus Briefen. Die Spiegelung im anderen, im Briefpartner, dient der Intensivierung der eigenen Wahrnehmung. Auf diese Wirkung setzt auch auch die Ausstellung. Mit Rilke sehen heißt anders sehen, heißt altmodisch-emphatisch sehen, heißt neu sehen. Ein hochinteressantes, überaus gelungenes Ausstellungskonzept, das vielleicht nur möglich wurde durch einen Kurt Schwitters, eine Jenny Holzer, einen Bruce Naumann – durch all jene, die das Wort in die bildende Kunst hineingetragen haben und dem synästhetischen Mehrwert zwischen Text und Bild hinterdreinforschen. Barbara Kern

Bis 31. August in den Kunstsammlungen Böttcherstraße

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