: 100 Jahre Knete
Einmal im Monat zieht der Abonnementsender Premiere für eine halbe Stunde den Grauschleier zur Seite, um dem Zuschauer Appetit auf ein Abonnement zu machen. Das Amuse geulle vom Juni ist eine schwere Versuchung: Gemeinsam mit den „Canal +“-Stationen in Frankreich, Belgien und Spanien produzierte Premiere eine Dokumentation über die Geschichte des gekneteten Animationsfilms.
Der Anlaß für die aufwendig gestaltete Sendung – der einhundertste Geburtstag des Plastilins – mag manchem ein wenig merkwürdig vorkommen. Für die Programmgestalter von Premiere ist der weiche Werkstoff der Knet-Trickfilmer allerdings von hohem Belang. Gut zweihundert Trickfilme zeigt der Sender pro Jahr – viele davon haben die Hamburger teilfinanziert –, und unter den schönen Produktionen, die anderswo leider nicht zu sehen sind, findet sich eine große Auswahl von Plastilinfilmen.
Für seine Premiere-Dokumentation „Die Plastilin-Prominenz“ ist Regisseur Lyonel Kouros weit gereist 5 nicht nur in die Vergangenheit. Er läßt zum Beispiel „Wallace und Gromit“-Regisseur Nick Park in seinem Studio demonstrieren, wie eine Knetfigur in Bewegung gebracht wird: Immer wieder drückt Nick Park die Finger seines Hundebsitzers Wallace ein kleines Stück weiter nach oben oder unten – von jeder Bewegung wird dann eine Aufnahme gemacht –, bis im fertigen Film schließlich ein nervöses Gefuchtel zu sehen ist.
In einem weiteren Interview stellt Lyonel Kouros den Animationsfilmer Gari Bardin vor. Bardin, urspünglich vom Theater stammend, gehört zu den renommiertesten Trickregisseuren. Anders als bei Nick Park, sind seine Figuren gröber geformt; ihnen sieht man immer das Material an, aus dem sie hergestellt wurden. An ihrem überzeugenden Schauspiel ändert das jedoch nichts: Wenn der geknetete Wolf in Gari Bardins mehrfach ausgezeichneter Rotkäppchen-Adaption eine ganze Reisegruppe von Knetcharakteren schwankend in seinem Magen herumträgt, dann scheint das ganz normal und richtig.
In Rußland ist Plastilin Mangelware, erzählt Gari Bardin vor Lyonel Kouros Kamera. Die Herstellung vom „Rotkäppchen“ verdanke er Nick Park: Der schickte ihm nach einem Treffen auf einem Animationsfilmfestival eine Kiste mit 19 Kilogramm englischen Plastilins. Ganz wunderbares Material sei das, schwärmt Bardin und hält seinen Wolf ins Bild.„Der ist auch mit Nick Parks Plastilin gemacht.“
Neben Einblicken in Animationsfilmstudios, wo Skulpteure mit kleinen Holzstäbchen die Gesichtszühe einer Knetfigur prägen und Kulissen auf großen Tischen aufgebaut sind, präsentiert die „Plastilin-Prominez“ mehrere Auszüge aus Animationsfilmen, so auch aus dem ersten abendfüllenden Knettrick, „The Adventures of Mark Twain“ von Will Vontion.
Den zweite Langfilm in dieser Technik produziert übrigens zur Zeit Nick Park – einige Monate wird es jedoch wohl noch dauern, bis alles zurechtgeknetet ist.
Wie es sich knethistorisch gehört, beschäftigt sich „Die Plastilin-Prominenz“ natürlich auch mit den Ursprüngen der dreidimensionalen Tricks: Buster Keaton etwa ist zu sehen, der allerhand mit einer zähen Masse anstellt, und auch der erste Knetfilm aus dem Jahre 1902, „Fun in the Bakery Shop“ von Thomas Edison, wird gewürdigt und darüber hinaus von einer Plastilin-Moderatorin vorgestellt, die Kouro selbst entworfen und animiert hat.
Vor allem aber huschen Figuren der zeitgenössischen Knetanimation durchs Bild – bunt, beweglich und immer wieder anders gestaltet: Mit etwas Erfahrung kann man den Regisseur an seinen Charakteren erkennen, an der Art, wie er sie geformt hat; ob er Fingerabdrücke auf dem Material glättet oder sie als Stilmittel einsetzt; ob er Mensch und Tier lippensynchron sprechen läßt und ihre Münder und Mäuler in mühsamer Kleinarbeit auf den Dialog hin formt.
Gemein ist natürlich, daß Premiere keinen Film komplett in der Dokumentation untergebracht hat und so mit der Ausstrahlung der Hommage an die Knete für ein schreckliches Hungergefühl beim Animationsfilmfreund – mehr möchte man davon sehen, am liebsten jeden Tag. Carola Rönneberg
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