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Wählgeister in Algerien

Nach offiziellen Zahlen hat sich die Wahlbeteiligung in Algerien kurz vor Schließung der Wahllokale auf wundersame Weise sprunghaft erhöht  ■ Aus Algier Reiner Wandler

Die von Staatspräsident Liamine Zéroual versprochene „völlige Normalität der Parlamentswahlen“ fand zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale ihr medienwirksames Ende. Um 17 Uhr rief Scheich Mahfoudh Nahnah zur dringenden Pressekonferenz in die Zentrale seiner Bewegung für eine Gesellschaft des Friedens (MSP). „In mehreren Wahllokalen lagen unsere Stimmzettel nicht aus. In anderen waren sie manipuliert, um ungültige Stimmen zu provozieren“, lautete der Vorwurf des Führers der gemäßigten Islamisten. Als Beweis hielt er einen Vordruck hoch, auf dem die arabischen Initiale seiner Partei gleich neben dem offiziellen Stempel der Wahlbehörde nur unvollständig reproduziert waren. In anderen Wahllokalen hätten MSP-Mitglieder, die ihre Stimme abgeben wollten, erstaunt festgestellt, daß das laut Wählerliste bereits jemand für sie getan hatte.

Was Scheich Nahnah noch vorsichtig als Befürchtung äußerte, sollte sich wenig später in den Tenor der Wahlkritik verwandeln: Die Regierung hat die Wahlbeteiligung künstlich hochgetrieben. Ob MSP, die Front der Sozialistischen Kräfte (FFS) oder die ehemalige Einheitspartei FLN, alle beklagen, was jeder, der sich am Wahltag in verschiedenen Wahlbüros umgesehen hat, bestätigen kann: Die von Innenminister Mustafa Benmansour veröffentlichten Zahlen wollen nur schwer zum Bild der spärlich besuchten Wahlkabinen passen.

65,4 Prozent der fast 17 Millionen Wahlberechtigten – sechs Prozent mehr als bei den abgebrochenen Wahlen von 1991 – hätten ihre Stimmen abgegeben. Über zehn Prozent der WählerInnen entschieden sich laut Statistik noch im letzten Augenblick, das Ruder herumzureißen und die um 18 Uhr vermeldeten spärlichen 56 Prozent auf eine einigermaßen akzeptable Quote anzuheben.

Während den ganzen Tag über die Zahlen der abgegebenen Stimmen spätestens mit einer Stunde Verspätung bekanntgegeben wurden, herrschte im Innenministerium ab 18 Uhr völlige Funkstille. Die endgültigen Daten ließen bis zum nächsten Morgen um sechs Uhr auf sich warten.

Warum der unerwartete Wähleransturm der letzten Stunde sowohl Parteien als auch Journalisten verborgen blieb? Innenminister Benmansour hat eine einfache Erklärung: Den Ausschlag hätten die nur schwer zugänglichen Provinzen im Landesinneren gegeben.

So wählten zum Beispiel im Wüstenstädchen Tindouf, zwei Flugstunden von Algier, 92 Prozent, in vielen anderen Orten 70 bis 80 Prozent, während die Wahlbeteiligung in der Hauptstadt den historischen Tiefstand von 43,27 Prozent erreichte. In den einstigen Hochburgen der nach dem Abbruch der Wahlen von 1991 verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS), wie dem Vorort Cuba oder der Altstadt Kasbah, waren es gar nur knapp über 20 Prozent.

Bei den 240 internationalen Wahlbeobachtern – 107 von den Vereinten Nationen, der Rest von der Arabischen Liga und der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) – gingen bereits während des Wahlkampfes erste Beschwerden ein. Die Opposition beklagte, die Verwaltung mische sich zugunsten der vor drei Monaten gegründeten Präsidentenpartei, der Nationaldemokratischen Versammlung (RND), in die Wahlen ein. Mit neuen Tarifabschlüssen bei staatlichen Unternehmen und dem schnellen Abarbeiten von Wohnungsanträgen warb das Regime um Sympathien und Stimmen für die RND. Der RND, der Partei hochrangiger Vertreter des Regimes, unter ihnen der Präsident des von den Militärs eingesetzten Übergangsparlaments Abdelkader Bensalah und Regierungschef Ahmed Ouyahia, standen alle nur erdenklichen Mittel zur Verfügung, von öffentlichen Versammlungslokalen über Anschlagstafeln in den ebenfalls von den Militärs nach dem Putsch 1992 frisch beschickten Rathäusern bis hin zu kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln, um das Volk zu den Wahlkampfveranstaltungen zu bringen. Das Fernsehen widmete den RND-Meetings regelmäßig mehr Zeit als den anderen Parteien. In Oran waren schon eine Woche vor dem Urnengang mit offiziellem Stempel versehene RND- Stimmzettel im Umlauf.

Währenddessen wurde gegen die Bewegung Demokratisches Algerien (MDA) von Algeriens erstem Präsident Ahmed Ben Bella, der zum Wahlboykott aufrief, unter fadenscheinigen Begründungen ein Verbotsverfahren eingeleitet. Die für den staatlichen Rundfunk und das Fernsehen produzierten Werbespots der Trotzkistischen Arbeiterpartei (PT) von Louisa Hanoune und der FFS von Exilpolitiker Hocine Ait Ahmed fielen der Zensur zum Opfer. Was da unter dem Slogan „Der Frieden muß wiederhergestellt werden“ zu sehen war – der Aufruf zu einer Dialoglösung für den bürgerkriegsähnlichen Konflikt –, galt den Aufsichtsbehörden als „ein Faktor zur Destabilisierung der öffentlichen Meinung und ein Angriff auf den Staat und seine Institutionen“.

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