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Hypochonder hören die Flöhe husten

Bei 20 Prozent der Patienten ist die Ursache für eine Erkrankung nicht feststellbar  ■ Von Wiebke Rögener

Er ging als „Der eingebildete Kranke“ in die Literatur ein und gilt seiner Umwelt meist als komische Figur: Der Patient, der oft jahrelang über allerlei Gebrechen klagt, ohne daß eine organische Erkrankung feststellbar ist. Diffuse Schmerzen, Herz-Kreislauf- Beschwerden oder Krankheitssymptome des Verdauungssystems, die sich nicht auf eine körperliche Ursache zurückführen lassen, werden einer Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge als somatoforme Störungen bezeichnet. Die WHO schätzte auf einem Symposium im Februar dieses Jahres den Anteil solcher im Krankheitswahn Befangenen auf 20 Prozent aller Patienten der allgemeinmedizinischen Praxen. Oft pilgern sie jahrelang von Arzt zu Arzt auf der Suche nach dem, der endlich ihr Leiden erkennt und nehmen dabei viele aufwendige Diagnoseverfahren in Anspruch. „Manche bringen es vom Hypochonder bis zum Fachpatienten“, bemerkt der Kölner Arzt Gerhard Uhlenbruck. Sie stellen so nicht zuletzt einen Kostenfaktor dar. Angesichts der verordneten Sparmaßnahmen liegt der Vorwurf nahe, Simulanten würden das Gesundheitswesen unnötig belasten.

Doch „diese Patienten leiden wirklich, fühlen sich nicht ernstgenommen und sind oft in ihrer Lebensführung stark beeinträchtigt“, stellt Professor Oskar Berndt Scholz klar. Als Direktor der Abteilung Klinische und Angewandte Psychologie des Psychologischen Instituts der Universität Bonn leitet er eine Arbeitsgruppe, die untersucht, wie sich solche Patienten von ihren weniger unter Krankheitsängsten leidenden Mitmenschen unterscheiden. Die Wissenschaftler vermuteten: Menschen mit somatoformen Störungen verarbeiten Informationen, die sich auf das Thema Krankheit beziehen, anders als Gesunde.

In einem Test wurden daher Patienten mit organisch nicht begründbaren Krankheitssymptomen und gesunden Personen verschiedene Wörter vom Band vorgespielt. Ein Teil dieser Begriffe hatte gesundheitlich bedrohliche Inhalte, etwa „Operation“ oder „Tod“, ein anderer war ebenfalls gesundheitsbezogen, doch mit neutraler Bedeutung wie „Hygiene“ und „Sport“. Die Versuchspersonen sollten per Knopfdruck diese Wörter von sogenannten Non-Wörtern, etwa „Dosche“ oder „Atlegen“ unterscheiden. Kein Problem, solange alle Begriffe gut zu verstehen waren. Doch im zweiten Durchgang wurde die Aufgabe schwieriger: Dem Text wurde ein Rauschen überlagert, das die Wörter maskierte. Ein eigens entwickeltes Verfahren erzeugte einen gleichbleibenden Signal-Rausch-Abstand. Besser als mit einem konstanten Störgeräusch wird so eine bewußte Wahrnehmung verhindert.

Auf die unmaskierten Begriffe reagierten Gesunde und Patienten in gleicher Weise. Galt es jedoch, bei dem durch Rauschen verdeckten Text zu entscheiden, ob ein Wort oder eine sinnlose Silbenfolgen vorlag, zeigten sich deutliche Unterschiede: Viel häufiger als Gesunde drückten die eingebildeten Kranken aufs richtige Knöpfchen, wenn ein gesundheitlich bedrohlicher Begriff zu identifizieren war. Auch Änderungen des Blutdrucks und der Herzfrequenz zeigten die Patienten bei solchen Angst auslösenden Signalen weitaus häufiger als die Kontrollpersonen – selbst dann, wenn sie das betreffende Wort nicht bewußt erkannten. Sie hörten offensichtlich „die Flöhe husten“.

Die Ergebnisse der Studie bestätigen, daß auch Wahrnehmungen, die nicht ins Bewußtsein vordringen, beträchtliche Wirkung haben. Der Umkehrschluß, durch gezielten Einsatz unterschwelliger Reize das Verhalten von Menschen beeinflussen zu können, scheint dagegen weniger abgesichert. Zwar machten in den achtziger Jahren Befürchtungen Schlagzeilen, in Rockmusik rückwärts eingespielte „satanische Botschaften“ würden die Jugend verderben. Eine entsprechende Anklage gegen die Gruppe „Judas Priest“ mußte aber bekanntlich fallengelassen werden. Positive Wirkungen dagegen sollen suggestive, von gewitzten Geschäftsleuten massenhaft auf den Markt geworfene sogenannte Selbsthilfe-Kassetten haben: Unbewußte Einflüsse, mit Musik überlagerte, mit mehrfacher Geschwindigkeit oder rückwärts abgespielte Texte entsprechenden Inhalts, erleichtern es angeblich, sich das Rauchen abzugewöhnen, abzunehmen oder sexuelle Probleme zu überwinden. Der in Kaufhäusern unhörbar abgespielte Satz „Ich bin ehrlich“ soll gar Ladendiebstähle verhindern.

Nachweisbar ist vor allem eine Wirkung auf die Umsätze der Produzenten solcher Kassetten: 1990 wurden in den USA 50 Millionen Dollar für Tonträger mit angeblicher suggestiver Botschaft ausgegeben. Verhaltensänderungen, die über Placebo-Effekte hinausgingen, waren dagegen in Studien nicht nachweisbar. Der an der Bonner Untersuchung beteiligte Psychologe Ralf Ott stellt daher in einer demnächst in der Zeitschrift Hypnose und Kognition erscheinenden Arbeit fest, „daß bis heute noch keine Beweise dafür vorliegen, daß implizit (unbewußt) wahrgenommene Reize tatsächlich Verhalten ändern können“.

Doch warum reagieren dann „eingebildete Kranke“ so heftig auf unterschwellige akustische Signale? Ob die andersartige Verarbeitung unbewußter Informationen die Scheinsymptome mit verursacht, oder ob sie erst als Folge der Krankheit auftritt, ist nach dem bisherigen Kenntnisstand nicht zu entscheiden.

Auch die neue Studie sagt über die Wechselwirkungen zwischen Bewußtsein und Unterbewußtsein nicht mehr aus, als daß diese vorhanden sind. Doch Patienten mit somatoformen Störungen könnten davon profitieren, daß ihr Leiden nunmehr mit einem abgesicherten Testverfahren nachweisbar ist. Es soll nicht der Aussonderung von „Simulanten“ dienen, sondern dazu beitragen, daß an die Stelle immer weiterer apparativer Diagnostik frühzeitig eine erfolgversprechende verhaltenstherapeutische Behandlung treten kann.

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