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Das g ist nur ein Ton

■ Ein Kolloquium zum Thema "50 Jahre Doktor Faustus" in Berlin: Der Einfluß Adornos auf Thomas Mann ist umstritten

„Ausinterpretiert!“ hatte Thomas-Mann-Forscher Helmut Koopmann kürzlich angesichts von 100.000 Seiten Sekundärliteratur über Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ gerufen. „Falsch! Völlig falsch!“ meinte Hans Rudolf Vaget anläßlich eines viertägigen Kolloquiums zum Thema „50 Jahre Doktor Faustus“, das am Samstag im Berliner Konzerthaus zu Ende ging.

Kein Roman der Welt sei jemals auszuinterpretieren. Und am allerwenigsten der „Faustus“, jenes „Kulminationswerk Thomas Manns“ (Vaget), das „zuerst und zuletzt der Roman Deutschlands“ (Eberhard Lämmert) sei oder zumindest „doch ein ungewöhnliches Buch“ (Hans Mayer). Und so waren letzte Woche Germanisten, Soziologen, Politik- und Musikwissenschaftler in Berlin zusammengekommen, den 100.000 Seiten noch ein paar neue hinzuzuinterpretieren.

Deutschlandroman, Künstlerroman, Epochenroman. Das Konzerthaus am Gendarmenmarkt hat das Buch über „das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn“ in dieser Spielzeit vor allem als Musikroman verstanden und sein Programm ganz darauf abgestimmt. Das bedeutete vor allem Beethoven-, Wagner- und Schönberg- Konzerte, aber auch Stücke anderer Komponisten, die mit dem Roman motivisch irgendwie verknüpft sind.

Zum Abschluß dieser Konzertreihe hatte nun die Humboldt- Universität ein interdisziplinäres Kolloquium organisiert, und Hans Rudolf Vaget, Germanist mit Lehrstuhl in Northhampton/Massachusetts, gab gleich in seinem Eröffnungsvortrag die Richtung an, in die er den „Faustus“ gern weiterinterpretiert sähe. Nach 1989, so Vaget, müsse man den Roman endlich nicht mehr mit „demonstrativer Korrektheit“ lesen. Die Schulmeisterlichkeit linker Kritik der 60er und 70er Jahre „wirkt heute nur noch peinlich und gehört abgetan“, meinte Vaget. Vor allem der Einfluß Adornos auf die „Komposition“ des Romans sei total überbewertet worden, die enge Musiksicht Adornos und dessen Schönberg-Fanatismus verstelle nur den Blick auf den für den Roman wichtigeren Komponisten, den Blick auf Richard Wagner.

Das fand auch der Berliner Musikwissenschaftler Klaus Kropfinger, der eigentlich zum Thema „Literarische Zwölftontechnik (Schönbergs) oder Leitmotivik (Wagners)“ sprechen sollte, dann aber eine Stunde lang über die unendliche leitmotivische Verknüpfung des Romans und die Allgegenwart von Wagners Musik redete und zu Schönberg zwei Sätze bereit hatte: „Die Zwölftonmusik hat für den Roman bestenfalls oberflächlichen Wert.“ Und: „Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos.“ Eine Erledigung.

Man stritt viel um Adorno während der viertägigen Veranstaltung, die in ständig vollbesetzten Räumen der Humboldt-Uni und des Konzerthauses stattfand. Und stritt man um Adorno, stritt man um „das hohe g“. Das hohe g der Gnade und der Hoffnung, „das Licht in der Nacht“, mit dem Adrian Leverkühn seine „Fausti Weheklag“, die Zurücknahme der neunten Symphonie, ausklingen läßt. Gnade für „das zur Hölle gefahrene Deutschland“ am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Adorno hatte nachweislich Einfluß genommen auf das Ende der Komposition. In der „Entstehung des Doktor Faustus“ schreibt Thomas Mann über Adornos Reaktion auf die erste Fassung des Schlusses: „Ich war zu optimistisch, zu gutmütig und direkt gewesen, hatte zu viel Licht angezündet, den Trost zu dick aufgetragen.“ Dies einsehend, schrieb Thomas Mann den Schluß um „und fragte, ob es nun recht sei“. Adorno habe dann seine Frau gerufen, „die müsse das auch hören“. Mann las noch einmal, „blickte auf – und brauchte nicht weiter zu fragen“. So Thomas Mann. Vaget weiß es besser: Der Kompromiß, von dem Adorno und Thomas Mann berichteten, sei „Legende“, er beobachte vielmehr eine „beträchtliche Adorno-Ferne“, eines kleinen Merkmals wegen: „Thomas Manns Unabhängigkeit könnte nicht deutlicher pointiert werden als durch das g.“

Eberhard Lämmert (Berlin) merkte an, das g habe Mann Adorno wohl abgetrotzt, doch sei es nur ein Ton und nichts darüber hinaus, ein letztlich unbedeutendes Zugeständnis. Der Soziologe Stefan Breuer (Hamburg) sprach nicht über das g, deutete aber eine Verwandtschaft des „Faustus“ zu einem anderen Buch an, das auch gerade seinen 50. Geburtstag feiert: Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung“.

Schließlich Hans Mayer. Der 90jährige Germanist, dessen Vorträge über „meine Zeit mit Brecht oder Beckett oder Thomas Mann“ fast schon mythischen Rang haben. Da schwieg der ganze vollbesetzte Saal. Anekdotenreich berichtete Mayer von seinen Begegnungen mit „dem Meister“, wie er damals, 1949 in Weimar bei dem Festbankett für Thomas Mann, auf dem Höhepunkt seiner Rede, welche ein Fauxpas, Heinrich Mann habe hochleben lassen („Der Meister lächelte nachsichtig“), und wie er schon als 18jähriger mit Thomas Mann spazierengehen durfte („Ehrlich gesagt, sein Hund war ihm wichtiger“).

In der g-Frage stand Mayer eher auf der Adorno-Seite, nannte die Hoffnung am Ende doch sehr dünn und meinte daran seine These knüpfen zu können, mit dem „Faustus“ sei es Thomas Mann, parallel zur Zurücknahme der Neunten Symphonie durch Leverkühn, um eine Zurücknahme von Goethes „Faust“ gegangen. Da staunte das Publikum, und Inge Jens, Mayers Gesprächspartnerin an diesem Abend, meinte: „So weit würde ich doch nicht gehen wollen.“ Und der 90jährige grinst und meint: „Es gibt nur Möglichkeiten in den Geisteswissenschaften. Es ist ein Denkspiel, was wir machen.“ Volker Weidermann

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