: „Chemie ahoi“in der Nordsee
■ Nach dem Aussterben der Schnecken sind jetzt Muscheln bedroht / Wissenschaftler vermutet Hafenschlamm als Ursache der Vergiftung im Watt / Das meiste Gift ist in der Wesermündung
Nach noch unveröffentlichten Ergebnissen einer Studie des Hamburger LimnoMar Institutes hat das Umweltgift Tributylzinn (TBT) jetzt auch die Miesmuschelbestände an der Wattenmeerküste und in der Wesermündung angegriffen.
TBT war im vergangenen Monat auf einer Tagung des Niedersächsischen Landesamtes für Ökologie für das Aussterben der Wellhornschnecke in der Nordsee verantwortlich gemacht worden. TBT ist eine Organozinnverbindung, die häufig für Anstriche von Schiffsrümpfen verwendet wird. Die Farbe soll Anlagerungen von Algen und Seepocken an die Schiffswand verhindern. Der glatte Schiffsteint garantiert verminderten Treibstoffverbrauch. Aber auch in Weichmachern, Holzschutzmitteln und PVC-Produkten findet TBT Verwendung.
Eine Wirkung: Das Gift blockiert oder verändert Sexualhormone. Als Folge registrierten die Wissenschaftler der Forschungsstelle Küste auf Norderney eine Umwandlung des Geschlechtes bzw. eine Verzwitterung von Schnecken.
Im Gewebe der Miesmuscheln wurden Zusammenballungen von Blutzellen und Blutungen gefunden. Ob diese pathologischen Veränderungen von TBT hervorgerufen wurden, konnte LimnoMar nicht eindeutig klären. Auch die Frage, ob die Abnahme der Miesmuschelbestände tatsächlich von TBT verursacht ist, bleibt offen.
Trotzdem sei die Anreicherung des Giftes in den Muscheln alamierend, denn TBT zeigt schon in kleinsten Konzentrationen Wirkung, so LimnoMar. Proben für die aktuelle Studie waren vor Norderney, Knechtsand, in der Wesermündung und im Jadebusen gezogen worden. Dies sind die Bereiche, in denen die Muschelbestände in den letzten Jahren drastisch abgenommen haben.
Burkhard Watermann vom Institut LimnoMar: „Ich fand es merkwürdig, daß gerade im Wattenmeer solche Konzentrationen von TBT gefunden wurden.“Der Wissenschaftler vermutet, daß Einträge von TBT in die Nordsee durch Ems, Elbe und Weser als stark befahrene Schiffahrtsstraßen erfolgen.
Grundsätzlich sind Gewässer vor Yachthäfen, Schiffswerften, Fischerei- und Fährhäfen stark mit Organozinn belastet. Die Wesermündung ist mehr als doppelt so stark mit Zinn verseucht wie vergleichbare Stellen an Ems und Elbe. „Ich vermute, daß die Verklappung von Hafenschlämmen eine entscheidene Quelle für den Zinneintrag ins Watt ist.“
Die hormonelle Wirkung von TBT ist seit langem bekannt. Die Diskussion über den Stoff ist international ein zentrales Thema. In Deutschland sind Forschungen über das konkrete Ausmaß der Bedrohung nicht so umfangreich wie in den Niederlanden oder den USA. Dort wird schon länger die Auswirkung von TBT auf den Menschen untersucht.
So berichtet der World Wildlife Fund (WWF), daß Kinder von Frauen, die mit TBT belasteten Fisch aus den Großen Seen gegessen hatten, mit neurologischen Defiziten geboren wurden und als Schüler in ihrer geistigen Entwicklung gegenüber Altersgenossen zurückblieben. Bei niederländischen Kindern ist ähnliches beobachtet worden. Andere Untersuchungen über die hormonelle Wirkung der Chemikalie berichten von abnehmender Fruchtbarkeit und Mißbildungen der Geschlechtsorgane, einer erhöhten Anzahl von Fehlgeburten und vermehrtem Hoden- und Brustkrebs. schuh
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