: Der Traum davonzureiten
Vor einem Jahr wurde Noäl Martin Opfer eines rassistischen Anschlags in Brandenburg. Seitdem ist der Brite querschnittsgelähmt ■ Aus Birmingham Barbara Bollwahn
Ganz langsam gleitet die Zeitung zu Boden. Mit seinen Augen verfolgt Noäl Martin, wie sich die Derby-Ergebnisse immer weiter von ihm entfernen und seine Knie hinunterrutschen. Er war gerade dabei, den Steckbrief über seinen Favoriten „Simple Empire“ zu lesen. Nun liegt der Artikel über die Nummer elf zwischen den Rädern seines Rollstuhls. Der halbe Meter zwischen seinem Schoß und dem Boden ist unerreichbar für den 38jährigen. Noäl Martin ist seit einem Jahr querschnittsgelähmt.
Im Sommer vergangenen Jahres war der gebürtige Jamaikaner noch regelmäßig geritten. Das war in Deutschland – wenige Wochen, bevor ein Feldstein in sein Auto geworfen wurde, er die Kontrolle über seinen alten Jaguar verlor und mit voller Wucht gegen einen Baum knallte. Dieser 16. Juni veränderte sein ganzes Leben. Seitdem kann er nichts mehr spüren. Arme, Beine, Rücken – kein Gefühl, nirgends. Läuft ihm die Nase, schwirrt eine Fliege um seinen Kopf – ohne fremde Hilfe werden solche Lappalien zur Qual. Ob er Hunger haben müßte, weiß er nur, wenn Geräusche und Gerüche aus der Küche dringen. Streicht ihm seine langjährige Lebensgefährtin Jaqueline über die Brust, freut er sich über die Geste. Fühlen kann er sie nicht.
„I was hard on the way to success“, sagt Noäl Martin über den 16. Juni des vergangenen Jahres. Damals war er kurz davor, sich seinen Kindheitstraum vom eigenen Rennpferd zu erfüllen. Aus Liebe zu Pferden – aber auch mit der Absicht, anderen Schwarzen zu demonstrieren, daß nicht nur Weiße erfolgreich sein können. Die Jobs in Deutschland brachten ihn diesem Ziel näher. Er arbeitete viel und verdiente gut. Im August wollte er zurückgehen und auf einer Auktion ein Pferd kaufen.
Doch dazu kam es nicht. An diesem Sonntag abend vor einem Jahr wollte Noäl Martin in Mahlow, einem Dorf südlich von Berlin, Jaqueline in Birmingham anrufen. Nur, um ihr zu sagen, daß er auf dem Weg zu einer neuen Baustelle bei Plauen ist. Und daß er sie vermißt. Wäre das Telefon an der Post nicht kaputt gewesen, hätten sich Noäl und seine Freunde Mikel und Arthur nie in die „dangerous zone“ begeben: den Mahlower Bahnhofsvorplatz, einem ausgewiesenen Treffpunkt einer rechten Clique. Aber sie waren zu dritt und fest entschlossen, die absehbaren Provokationen einfach zu ignorieren. Als Noäl aus der Telefonzelle kam, schallten „Nigger“-Rufe über den Platz. Die drei gebürtigen Jamaikaner stiegen in seinen alten Jaguar und verließen das Dorf im Brandenburgischen, wo sie mehrere Monate als Verputzer gearbeitet hatten.
Kurz vor dem Dorfausgang sah Noäl Martin einen Jugendlichen, der mit einem Stein in der Hand auf einer Baustelle stand. Er registrierte ihn. Mehr nicht. Hin und wieder schaute er in den Rückspiegel. „Everything was fine.“ Dann sah er hinter sich Scheinwerfer, die immer näherkamen. Das Auto fuhr so dicht auf, daß es seine Stoßstange fast berührte. Dann setzte der andere Wagen zum Überholen an. Auf halber Höhe drosselte er die Geschwindigkeit und fuhr neben dem Jaguar. Eine Scheibe wurde heruntergedreht, ein Feldstein mit voller Wucht in das linke hintere Fenster von Noäls Wagen geschleudert. Er verlor die Kontrolle über das Auto.
Am nächsten Tag heißt es in einer Pressemitteilung des Polizeipräsidiums Potsdam: „Drei britische Staatsangehörige... sind von unbekannten Deutschen beleidigt und belästigt worden. Nachdem die unbekannten Täter... mit ihrem Pkw weggefahren waren, folgten die Beleidigten ihnen in ihrem Pkw Jaguar... In Höhe des Glasower Damms wurde die Frontscheibe des Pkw Jaguar von einem Feldstein (20 x 15 x 5 cm) getroffen, den ein Insasse aus dem vorausfahrenden VW geworfen hatte...“
Ohne die Ermittlungen aufgenommen zu haben, steht für die Polizei sofort fest, daß die Briten die Deutschen verfolgt hätten. Erst ein Artikel in der taz, anschließende Beiträge in englischen und deutschen Zeitungen und im Fernsehen veranlassen Polizei und Staatsanwaltschaft, die dorfbekannte rechte Clique unter die Lupe zu nehmen. Es dauert fünf Wochen, bis die Täter, ein 24jähriger Montageschlosser und ein 17jähriger Maurerlehrling, gefaßt und im darauffolgenden November zu fünf und acht Jahren Gefängnis verurteilt. Der Vorsitzende Richter der Jugendkammer begründet sein Urteil mit der Hoffnung auf einen „hörbaren Aufschrei der Empörung über die ausländerfeindliche Tat“.
Die Wellen dieser Empörung haben sich nach einigen Spendenaufrufen geglättet. Seit Noäl im Dezember vergangenen Jahres nach Hause entlassen worden ist, hat er sein Haus in Birmingham nicht ein einziges Mal verlassen. Mit seinem Rollstuhl kann er sich nur in der untersten Etage der drei Stockwerke fortbewegen. Sein Lieblingsplatz ist die Mitte des Wohnzimmers. Von dort schaut er sich Pferderennen im Fernsehen an oder blickt in den Garten, den er vor einigen Jahren angelegt hat. Wenn er ein Buch liest, hält er einen Stift zwischen den Lippen, um die Seiten allein umblättern zu können. Rutscht sein Körper für ihn nicht spürbar nach vorn, muß er Jaqueline und eine Pflegerin rufen, damit sie ihn aufrichten. „Ich muß mich daran gewöhnen, daß mein Leben von anderen abhängt“, sagt er. „This is the life from now on.“ Auch wenn ihn die Ärzte als Patienten mit Heilungschancen aufgegeben haben, gibt Noäl Martin nicht auf.
Auch seine Lebensgefährtin Jaqueline kämpft. Um finanzielle Unabhängigkeit. Seit dem Unfall vor einem Jahr war sie an Noäls Seite in deutschen und englischen Krankenhäusern. Sie hat ihn gewaschen und gefüttert, ihm aus Pferdebüchern vorgelesen. Weil sie ihren Job als Kauffrau gekündigt hat, hat sie vorerst keinerlei Anspruch auf Arbeitslosengeld. Seitdem Noäl aus dem Krankenhaus entlassen wurde, arbeitet sie ohne Bezahlung rund um die Uhr als seine Pflegerin. Aus dem Opferentschädigungsfonds bekommt Noäl Martin monatlich 3.000 Mark überwiesen; die britischen Sozialbehörden zahlen ihm eine Invalidenrente von wöchentlich 83 Pfund, rund 200 Mark. Allein 1.500 Pfund müssen Noäl und Jacqueline jeden Monat für das Haus abbezahlen. Wovon die Raten in Zukunft bezahlt werden sollen, weiß sie nicht. Ein großer Teil der Spendengelder ist bereits für den Kredit und Hotelrechnungen während ihres Aufenthalts in Deutschland draufgegangen. „Aber was sollen wir ohne das Haus machen?“ fragt sie. Aus Sicht der Behörden wäre es die billigere Variante, Noäl in ein Heim abzuschieben. Doch das wäre sein Ende. „Wir brauchen finanzielle Hilfe, um wieder auf die Beine zu kommen“, sagt sie. „Ich lasse nicht zu, daß mein Leben zerstört wird“, sagt er.
Er träumt immer noch seinen Traum vom eigenen Rennpferd. Mut macht ihm ein querschnittsgelähmter Landsmann, der nach einem Reitunfall vom Rollstuhl aus Pferde trainiert – unter anderem die der Queen und arabischer Ölscheichs. Daß bei dessen Karriere auch seine weiße Hautfarbe ein Rolle gespielt haben dürfte, ist für Noäl Martin kein Thema – zumindest keines, das ihn abschreckt. Da mußten Schwarze früherer Generationen noch ganz andere Kämpfe ausfechten. Daß er jetzt im Rollstuhl sitzt, sieht er als seinen ganz persönlichen Kampf, seine Herausforderung an. „Now it's on me to fight“, sagt er. Jetzt ist er dran mit Kämpfen. Eines fernen Tages will er auf sein Leben zurückblicken und sagen können: „Ich bin froh, Teil der Menschheit gewesen zu sein.“
Tränen, so meint er, helfen ihm ebensowenig wie Haßgefühle. „Ich empfinde nichts“, sagt er und markiert mit seinem Kinn die Stelle unter dem Hals, von der ab er ohne jegliches Gefühl ist. „Haß kann mich auch nicht wieder auf die Beine bringen.“ Doch er würde gern mit den beiden Jugendlichen reden, die ihn und seine Freunde, die nur leicht verletzt wurden, verfolgt haben. „Minderwertigkeitskomplexe“, lautet seine Meinung über deren Beweggründe für ihre Tat. Auch wenn er die verhängten Gefängnisstrafen als „zu milde“ empfindet, hofft er, „daß sie sich ändern.“
Nein, Noäl Martin ist nicht verbittert, auch wenn er jeden Grund dazu hätte. Aber er ist enttäuscht. Und das zu Recht. „Tausende von Mark wurden ausgegeben, um mich am Leben zu erhalten.“ Jetzt fühlt er sich mit einem leblosen Körper alleingelassen. Mit einem Körper ohne Würde.
Nach vielen bürokratischen Hürden und Verständigungsschwierigkeiten soll voraussichtlich Anfang Juli ein Vertreter des Brandenburger Sozialministeriums nach Birmingham reisen, um eine „Bestandsaufnahme“ zu machen. Es gibt viel, was zu klären ist: Wer übernimmt die Kosten für Therapien, die Noäl Martin die Aussicht geben könnten, irgendwann vielleicht einige Finger, die Hände oder die Schultern bewegen zu können? Liegen weitere gesundheitliche Störungen vor, die die deutschen Behörden entschädigen müssen? Was braucht Noäl Martin – außer einem behindertengerechten Bett und einem Rollstuhl, mit dem er das Haus verlassen kann? Was kann getan werden, damit er das Haus nicht an die Bank verliert? Wer schließt mit seiner Lebensgefährtin einen Pflegevertrag ab? Wer zahlt den Einbau eines Fahrstuhl in dem denkmalgeschützten Haus? „Die deutsche Regierung ist meine letzte Hoffnung“, sagt Noäl Martin. Die Ausländerbeauftragten von Berlin und Brandenburg, Barbara John und Almuth Berger, haben inzwischen ein Spendenkonto eingerichtet. Wenn ihm das Land, in dem sein Leben zerstört wurde, einen Rehabilitationsplatz anbieten würde, würde er dorthin zurückgehen. „Ich habe keinen Haß auf Deutschland“, sagt er.
Seine größte Angst ist, daß ihn Jacqueline verlassen könnte. „Ich weiß, was sie meinetwegen durchmacht“, sagt er. Vor dem Unfall war er für sie und sie für ihn da. „Jetzt ist nur sie für mich da. Sie ist unbezahlbar für mich.“ Im Krankenhaus hat er bei anderen Patienten mitangesehen, wie deren Beziehung an den Belastungen zerbrachen. „Ohne Jacky“ würde er sterben wollen. Auch dafür bräuchte er fremde Hilfe. „Ich könnte mir nicht einmal selbst Tabletten verabreichen.“
Spenden für Noäl Martin bitte an: Landeshauptkasse Berlin, Kontonummer: 58-100 bei der Postbank Berlin (BLZ 100 100 00) zugunsten 1103/28290 Unterkonto 104
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