Das viel zu sichere Netz der Zuversicht

Die Linke und ihr verqueres Verhältnis zu Gott, Religion und Himmelsmächten – eine gütige Bilanz  ■ Von Christian Semler

Selbst mit Zufallsbekanntschaften plaudert es sich heutzutage leicht über sexuelle Vorlieben, die beste Art, einen betrügerischen Bankrott zu inszenieren, oder andere, vormals dem Intimbereich zugehörige Themen. Als peinlich, ja unangebracht gelten hingegen Gespräche über den Glauben. „Das ist die größte Provokation, seit ich die Sowjetunion verlassen habe!“ rief kürzlich eine russische Freundin aus, als sie – auf kirchlichem Gelände – gefragt wurde, wie sie es denn mit Gott halte.

Lassen wir uns durch das blühende Sektenwesen nicht täuschen. Das „Heilige“, noch in den fünfziger Jahren Gegenstand von Studium & Schauder, hat seine Aura eingebüßt. Heilig ist den Deutschen heute ihr Jahresurlaub eher als das Dogma der Dreifaltigkeit, wenn man der empirischen Sozialforschung glauben darf.

Obwohl die Gesellschaft fast durchgehend säkularisiert ist und selbst gläubige Christen wesentliche Bausteine ihrer Religion wie Himmel, Hölle und das Jüngste Gericht umstandslos beiseite geschoben haben, haftet dem Verhältnis von Gläubigen und Ungläubigen, zumal solchen linker Herkunft, etwas seltsam Anachronistisches an. Den Gekreuzigten als „Balkensepp“ darzustellen wird allen Ernstes in einem links- alternativen Blatt als gelungene Provokation, ja als Akt der Entmystifizierung angesehen.

Immer noch wird Karl Marx' Satz „Religion ist das Opium des Volkes“ als Quintessenz zeitgenössischer Religionskritik zitiert. Wobei häufig genug der gedankliche Zusammenhang, in dem dieser berühmte Ausspruch steht, ausgeblendet wird. Denn nach Marx ist das religiöse Elend Ausdruck des wirklichen Elends und „in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend [...]. Sie ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.“ Daher der Schluß von Marx: „Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.“

In der Religion finden sich nach Marx also verhimmelte menschliche Bedürfnisse – solche nach Solidarität, nach Menschlichkeit und nach Glück –, die es hinieden zu verwirklichen gilt. Schon zu Zeiten von Marx haben sich religiöse Dissidenten jedweder Couleur nicht damit beschieden, das Jenseits als Landschaft ihrer Wünsche auszumalen. Auch heute, von der Solidarność der achtziger Jahre bis zur lateinamerikanischen Befreiungstheologie, werden radikalemanzipatorische Forderungen im religiösen Gewand vorgetragen. Wenn nicht sogar religiöse und proletarische Ikonen auf dem Hausaltar beieinanderstehen, wie in Eric Hobsbawns „Sozialrebellen“ nachlesbar. Gegenüber dieser Art von „entfremdetem Bewußtsein“ ist sicher Skepsis angebracht, nicht aber zähnefletschende Religionskritik.

Ob die eigentümliche Verkrampfung vieler Linker in Sachen Religion mit einem eigenen, unverarbeiteten transzendentalen Erbe zusamenhängt? In Brechts „Flüchtlingsgesprächen“ während der frühen vierziger Jahre, in der Bahnhofshalle von Helsinki, grübelt der Intellektuelle Ziffel über dieses Thema: „Die Deutschen haben eine schwache Begabung für den Materialismus. Wo sie ihn haben, machen sie sofort eine Idee daraus. Ein Materialist ist dann einer, der glaubt, daß die Ideen von den materiellen Zuständen kommen und nicht umgekehrt, und weiter kommt die Materie nicht mehr vor. Man könnte glauben, es sind nur zwei Sorten von Leuten in Deutschland, Pfaffen und Pfaffengegner. Die Vertreter des Diesseits, hagere und bleiche Gestalten, die alle philosophischen Systeme kennen; die Vertreter des Jenseits, korpulente Herren, die alle Weinsorten kennen. Ich habe einmal einen Pfaffen mit einem Pfaffengegner herumstreiten hören. Der Pfaffengegner hat dem Pfaffen vorgeworfen, er denke nur ans Fressen, und der Pfaffe hat geantwortet, der Herr Gegenredner denke nur an ihn.“

Das hört sich veraltet an, ist es aber nicht. Den Hedonismus der Linken hätte Brecht jedenfalls nicht als Verrat gegeißelt, sein zwanghafter Charakter wäre ihm freilich kaum entgangen. Bestimmt hätte er noch in dem neuesten linken Connaisseurtum, Weine und Käsesorten betreffend, die alte, unbewältigte Askese entdeckt. Brecht war mißtrauisch, wenn im Namen der guten Sache allzusehr auf Opferbereitschaft und heroischer Tugend insistiert wurde. Für den kommunistischen Revolutionär ließ er eigentlich nur eine Kardinaltugend gelten: seine Nützlichkeit. Vor allem aber lehnte er ab, was nach bedingungslosem Glauben aussah. Denn ihm war klar, daß nirgendwo in diesem Jahrhundert so inbrünstig geglaubt worden ist wie in den revolutionären Bewegungen.

Die Linken hatten und haben ein unerledigtes Glaubensproblem. Wer daran zweifelt, möge die Passagen in Jorge Semprúns Autobiographie „Federico Sanchez“ nachlesen, in denen der Autor von seinem Ausschluß aus der Kommunistischen Partei (KP) Spaniens wegen Rechtsabweichung spricht. Sanchez/Semprún, Mitglied des Zentralkomitees (ZK) der illegalen KP, war ins Schußfeld geraten, weil er gegenüber dem Mythos des Generalstreiks die veränderte Wirklichkeit Spaniens einklagte. In seinem Bericht über die Sitzung des Zentralkomitees, wo ihn der Bannstrahl traf, schildert Semprún den ZK- Genossen sein Schweigen angesichts der stalinistischen Verbrechen, seine Zustimmung zu den Schauprozessen von Budapest und Prag – trotz besseren Wissens.

Eine Genossin, Mitglied des ZK, die mit der Aufsicht über das Protokoll beauftragt ist, bricht in Tränen aus – ihr früherer Lebensgefährte war ein Opfer der Slánský-Prozesse gewesen. Etwas später unterstützt sie trotzdem den Ausschluß Semprúns. Sie schreibt: „Gerade dank der großen, schmerzlichen Lehren, die der XX. und XXI. Parteitag der KPdSU aus der Zeit des Kultes [um die Person Stalins; C.S.] gezogen haben, haben wir uns vom blinden, unwissenschaftlichen Glauben frei gemacht und wurde der Glaube in uns bestärkt, den Marx gemeint hat, als er davon sprach, daß die Kommunisten ,den Himmel zu erstürmen vermögen‘. Wenn dieser Glaube erkaltet, wenn man zu zweifeln beginnt, wenn man zum Skeptiker wird, ist das der Anfang vom Ende eines Kommunisten. So ist es nun einmal.“

Mit der Metapher von den „Himmelsstürmern“ hat Marx die Pariser Kommunarden gemeint. Er setzt sie in Gegensatz zu den „Himmelssklaven“ des neuerrichteten deutsch-preußischen Reiches. Die erschossenen Kommunarden kamen eben nicht in den soeben erstürmten proletarischen Himmel, sondern blieben „eingeschreint in die Herzen der Arbeiterklasse“, wie es in Marx' „Bürgerkrieg in Frankreich“ heißt. Auch eine etwas sakrale Formulierung, aber ganz diesseitig und ohne Glaubenserfordernis. Semprún ging es nicht darum, die spanische Kommunistin Irene Falcon zu denunzieren. Seine Autobiographie ist so rückhaltlos ehrlich und selbstkritisch, daß die Lektüre für jeden Linken zum schmerzhaften Erlebnis wird.

„Das Bedürfnis nach Gott“, so Immanuel Kant, „ist kein Beweis seiner Existenz.“ Setzen wir zeitgemäß an die Stelle von Gott die Transzendenz, die Gewißheit über den schließlichen, vernünftigen Weltgang, den unaufhaltsamen Sieg des Zivilisationsprozesses oder ähnliches, so ergibt sich aus Kants Worten auch ein Problem für die Linken, falls sie sich der zynischen Panzerung entledigen. Denn woher sollen sie beispielsweise die Gewißheit über den universellen Charakter der Menschenrechte nehmen, wenn ihnen der Rekurs auf das göttliche Recht oder das Naturrecht aus guten Gründen abgeschnitten ist? Der einzig ernsthafte Versuch, eine „Zivilreligion“ zu begründen, Tomáš Garrigue Masaryks Staatserfindung aus dem radikaldemokratischen Geist der tschechischen „Böhmischen Brüder“, ist gescheitert. Er war eine willkürliche Konstruktion, die außerdem Deutsche und Slowaken aus der Zivilreligion als ethischer Basis des tschechischen Staates nach 1918 ausschloß.

Auf der anderen Seite wird, zumindest von bedeutenden protestantischen Theologen wie Karl Barth, auch dem gläubigen Christen das Leben heutzutage schwergemacht. Denn Barth erkennt an, daß die Religionskritik von Marx und Feuerbach berechtigt war. Wir dürfen uns Gott nicht als verhimmelten Menschen vorstellen. Die Beziehung läuft von oben nach unten, eine Klammer bietet nur die Gnade. Und die ist unerforschlich.

Der Theologe und Antifaschist Dietrich Bonhoeffer hat, von anderen religiösen Vorstellungen inspiriert, folgende paradoxe Konsequenz gezogen: „Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt. Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.“

In ihrem Einsatz für Menschenrechte, für universale Werte müssen heute beide, Gläubige wie die Ungläubigen der laizistischen Linken, das sichere Netz entbehren. Die Zeiten des Triumphalismus und der gegenseitigen Evangelisation sind vorbei, trotz anderslautender Verlautbarungen nicht nur aus dem Vatikan. Dies um so mehr, als die Werte, für die beide Seiten eintreten, heute weltweit in Gefahr sind.

Statt Konfrontation Dialog, vielleicht sogar Zusammenarbeit? Aber in welchem Geist? Dazu der katholische Theologe Johann Baptist Metz: „Hinsichtlich der Kooperation bieten sich deshalb primär eine kritisch-negative Haltung und Erfahrung an; die Erfahrung des bedrohten Humanen, die Erfahrung der Bedrohung von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden.“