Messehallen zu Meditationsstätten

■ Auch wenn sich die Stadt Leipzig kirchentagsspröde zeigt, blicken die Veranstalter frohgemut auf die nächsten Tage

Leipzig (taz) – Rucksackbepackte Jugendliche ziehen durch eine Großbaustelle, vorbei an Baggern und Geröll, Preßlufthämmern und Staub. Leipzig empfängt seine Kirchentagsbesucher, die gestern mit Sonderzügen aus der ganzen Bundesrepublik anreisten, mit einem Hauptbahnhof in der Endphase seiner Umgestaltung. Aufbruchstimmung und Veränderung – das könnte den bewegten Protestanten zusagen. Gestern machten sie sich daran, die sächsische Hauptstadt zu erobern.

Leipzig gibt sich etwas kirchentagsspröde. Nur wenige Plakate und lila-weiße Kirchenfahnen zieren die Innenstadt. Wegen Finanznöten mußte die Kirchentagsleitung in diesem Jahr bei der Werbung zurückstecken. Die gastgebende Landeskirche Sachsen konnte nur wenig Geld zusteuern.

Von Werbeformen wie Sponsoring will die Kirchenleitung nichts wissen. Margot Käßmann, Generalsekretärin des 27. Evangelischen Kirchentages, sagte in der Auftaktpressekonferenz: „Der Kirchentag bleibt frei und unabhängig. Von Bandenwerbung im Schlußgottesdienst will ich nichts wissen.“ Trotzdem ist sie zuversichtlich, daß das protestantische Großereignis Fuß fassen wird in Leipzig, wo rund 16 Prozent der Einwohner Christen sind. Generalsekretärin Käßmann betonte, daß sie mit den Zahlen der ostdeutschen Teilnehmer, die sich seit dem letzten Kirchentag in Hamburg gesteigert hätten, zufrieden sei. Genau 21.975 Teilnehmer aus Ostdeutschland treffen sich mit rund 80.000 Westdeutschen. Aufgelockert wird das deutsch-deutsche Protestantentreffen durch knapp 4.000 ausländische Gäste. 2.000 Veranstaltungen – mit den Säulen Bibelarbeit, politische Diskussion und gemeinsames Feiern – warten auf sie.

Die Stadt hat sich vorbereitet auf das evangelische Massentreffen. Leipzig will die fünf Tage nutzen für Werbung in eigener Sache. 120 kostenlose Sonderveranstaltungen hat das Kulturamt aufgefahren. Der Touri-Service, zur Zeit verstärkt mit Informationsständen im Stadtbild präsent, will vom „Leipziger Flair“ überzeugen: „Wir müssen weg vom Industriestadtimage“, sagt Pressesprecher Andreas Schmidt und ist guter Hoffnung, daß einige der rund 100.000 Kirchentagsbesucher einmal wiederkommen werden. Um das gastfreundliche Image zu unterstützen, hat selbst Leipzigs Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube zehn Kirchentagsbesucher bei sich aufgenommen.

Auch in Leipzig wird der Kirchentag Messehallen zu Meditationszentren, Schulen zu Schlafsälen, Kirchen zu Konzerthallen und Marktplätze zu Meinungsforen verwandeln. Doch das erste Treffen in Ostdeutschland nach der Wende wird anders als die anderen, da ist sich Christian Führer, Pfarrer der wendebewegten Nikolaikirche, sicher. Leipzig habe nach 40 Jahren DDR viel zuviel Eigengewicht und Schwierigkeiten. Pfarrer Führer zur taz: „Es wird Überraschungen geben.“ Annette Kanis