: Der Schlaf des Rotarmisten
Zum Tod des russischen Dissidenten Lew Kopelew. Erinnerungen an einen tolstoianischen Humanisten, Soldaten und Weltbürger ■ Von Gerd Koenen
Von einer Veranstaltung in Frankfurt fuhren wir einmal gemeinsam mit dem Auto nach Köln, wo ein Termin in der Heinrich- Böll-Stiftung auf uns wartete. Das war am Beginn der neunziger Jahre, als Kopelew seine schweren gesundheitlichen Einbrüche noch nicht erlitten hatte. Wir diskutierten lebhaft – und dann erklärte er, daß er sich etwas hinlegen müsse, kippte den Sitz nach hinten und schlief geschlagene anderthalb Stunden den tiefen, robusten Schlaf des Rotarmisten, der er immer geblieben war. Oder war es der Schlaf des Häftlings?
Der Krieg hat ihn geprägt; nicht nur der antifaschistische Große Vaterländische Krieg, den er als Propagandaoffizier mit Megaphon und Kalaschnikow, mit Witz und Härte geführt hat, sondern auch schon der Klassenkrieg der zwanziger und dreißiger Jahre, den er als junger Komsomolze, reumütiger Trotzkist und frischgebackener Jungstalinist mit brutalem, durchaus lebenshungrigem Übereifer geführt hat. Lew Kopelew hat diese Epoche der Bürgerkriege und Weltkriege nicht nur beschrieben und „Aufbewahrt für alle Zeit“ (so der Titel seiner Autobiographie) – sondern auf eine oft irritierende Weise auch verkörpert. Seine erste Empörung in Ostpreußen verdankt sich, wie er aufrichtig genug geschildert hat, nicht einem schieren humanitären Mitleid – sondern der Sorge um die Verrohung seiner Kameraden und die Ehrenhaftigkeit seiner Sache. Aber dann war da inmitten der Schlachten und Brände die plötzliche Durchlässigkeit für die Leiden der Anderen, der Feinde, und er begann eine hartnäckige Auseinandersetzung darum, ob dies nun ein Krieg gegen die Faschisten oder gegen die Deutschen war – bis man ihm die Achselstücke herunterriß und er seine lange, zehnjährige Reise in die Welt der Lager antrat.
Hinter seinen ostpreußischen Erfahrungen von 1945 stand auch ein Bild von Deutschland, das gerade den linken Nachgeborenen des Krieges und der NS-Zeit nicht leicht einging. Als Bürgerrechtler und besorgten Ökologen in tolstoianischem Gewande, als Humanisten und Weltbürger wollte man ihn gern haben – aber wenn er von seinem Thomas Mann entlehnten Leitmotiv der „deutsch-russischen Wahlverwandtschaft“ und „Kameradschaft“ sprach, wollten viele lieber nicht so gern hinhören. Das klang allzu unzeitgemäß, zu emphatisch. Sein letztes, großes Lebensprojekt der „West-östlichen Spiegelungen“, das sich mit den Rußlandbildern der Deutschen und den Deutschlandbildern der Russen über die Jahrhunderte befaßt, hat nie die Publizität erhalten, die seine streitbaren Interventionen zum Tagesgeschehen fanden. Aber gerade auf dieses Projekt verwandte er den Großteil seiner Energien in den letzten 15 Lebensjahren.
In einem langen Gespräch, das wir Anfang letzten Jahres geführt haben, stockte mir an einer Stelle der Atem. Ich wollte auch den politisch durchaus problematischen Charakter ansprechen, den nicht nur die Phobien und Feindschaften, sondern auch die Faszinationen und Attraktionen zwischen beiden Ländern gehabt haben. War nicht das ins Universale überhöhte, hybride Selbstbild eine gemeinsame Grundlage der totalitären Ausbrüche in ihrer Geschichte – also der Slogan „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ und Dostojewskis Satz, wonach „Der Welt von Rußland das neue Wort“ gesprochen werde?
Kopelew sagte: „Ganz richtig, und deshalb lautet meine Schlußfolgerung: Am deutsch-russischen Wesen kann die Welt genesen.“ Das war fast ein Moment der Verzweiflung. Aber für Lew Kopelew ging es bei dieser Überpointierung um etwas ganz Bestimmtes: Seine Biographie wurzelte eben noch in einer Zeit, in der der kulturelle Verkehr und die osmotischen Austauschprozesse innerhalb der polyglotten Gemeinde der Künstler und Gebildeten eine Dichte und Intensität besaßen, von denen die Ausstellung „Moskau– Berlin“ vor zwei Jahren einen letzten, schwachen Eindruck gegeben hat.
Die Jahre des Totalitarismus und Weltkrieges waren auch ein Riß durch diese gemeinsame „Welt von Gestern“. Aber sie haben, eben durch die Erfahrung des Krieges und des Terrors, eine neue gemeinsame Erfahrung begründet.
Daß er, Lew Kopelew, mit einem Heinrich Böll, der auf der anderen Seite gekämpft hatte, sofort eine gemeinsame Sprache fand, war ihm nur ein Beweis mehr, daß es eine Sphäre kultureller und menschlicher Beziehungen zwischen bestimmten, der Sprache nach nationalen Kulturen gibt, die jenseits aller politischen Konjunkturen liegt. Und darin sei die deutsch-russische Beziehungsgeschichte „bis heute noch immer eine Utopie“ – die ins 18./19. Jahrhundert zurück- und ins 21. vorausverweist.
Auf dem letzten Foto von einer Ausstellung in Wuppertal, als er mit seinem Stock dasaß und Leute sich drängten, die ihn unter allerhand Vorwänden sprechen und berühren wollten, war aus der robusten, soldatischen Tolstoi-Gestalt des Lew Sinowjewitsch Kopelew plötzlich die zerbrechliche Figur eines alten, weisen Rebbe geworden. Davon, daß die großteils ermordeten, vertriebenen, geflohenen jüdischen Bewohner dieser mitteleuropäischen Sphären doch immer der Kitt waren, der die Kulturen einmal so intim miteinander verbunden hat, davon hat er sich wohl nicht immer Rechenschaft gegeben. Aber wer anders hatte so in zwei Kulturen zu Hause sein können? Er jedenfalls hat seine Utopie gelebt.
Gerd Koenen gibt gemeinsam mit Lew Kopelew ein Buch über „Deutschland und die russische Revolution“ heraus, das im Herbst im Fink Verlag, München erscheint. Darin ist auch das im Text erwähnte Gespräch enthalten, das Koenen mit Kopelew führte.
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