: Das scheue Monster Nessie
Mal taucht es in Form einer Seeschlange auf, mal als Drache, dann als Plesiosaurus: Seit das schottische Seeungetüm anno 565 einem Mönch erschien, haben es 1.000 Augenzeugen gesehen ■ Von Ralf Sotscheck
Natürlich habe ich es gesehen. Für einen Moment ragten Kopf und Hals aus dem schwarzen Wasser des Loch Ness. Dann war es wieder verschwunden. Nessie, das Ungeheuer, ist scheu. „Na siehste“, sagt Norrie Donald aus Dores an der Ostseite des Loch Ness. Er hatte nie Zweifel an der Existenz des Monsters.
Wir sind am Morgen aus Inverness, der Hauptstadt des schottischen Hochlandes, losgefahren, müssen aber gleich eine Pause einlegen, weil die Hebebrücke über den Caledonian Canal für ein Schiff geöffnet worden ist. „Vor ein paar Jahren hat die Brücke geklemmt und ging nicht mehr nach unten“, sagt Norrie. „Dann haben sie die Autos über die zweite Hebebrücke umgeleitet, doch nachdem die das Schiff durchgelassen hatte, klemmte sie ebenfalls. Beide Teile von Inverness waren auf einmal voneinander getrennt, niemand kam mehr auf die andere Seite.“ Seitdem dürfen die beiden Brücken nicht mehr gleichzeitig geöffnet werden.
Der Kanal verbindet Fort William mit Inverness. Er wurde 1822 eröffnet, aber das Verkehrsaufkommen war so gering, daß die Baukosten nicht wieder hereinkamen. Um die Höhenunterschiede zu überwinden, gibt es auf der hundert Kilometer langen Strecke 29 Schleusen. „Der Kanal verläuft durch eine natürliche Erdspalte“, sagt Norrie. „Früher war Schottland ein Teil Kanadas und lag dort, wo heute Australien ist. Dann bewegte sich der ganze Kontinent in einer Kurve Richtung Nordwesten und prallte mit Europa zusammen. Wir blieben an England kleben, während Kanada sich wieder losriß. Der Caledonian Canal ist die Linie, an der der Zusammenprall verlief.“ Das ist freilich Millionen von Jahren her.
Wir fahren an der Westseite des Flusses Ness entlang, rechts liegt der Besitz von Lord Burton, erzählt Norrie. Er sei sehr reich, fügt er hinzu. Hinter Dochgarroch verbindet sich der Ness mit dem Caledonian Canal und geht beim Bona- Leuchtturm in den Loch Ness über. Es ist das einzige Gewässer, das aus dem Loch Ness hinausfließt, während rund 40 Flüßchen hereinfließen. Und Bona ist der einzige Inland-Leuchtturm Großbritanniens. „1940 kam der Bomber R-for-Robert hier runter“, sagt Norrie. „14 Mal hatte er Bomben über Deutschland abgeworfen, dann zog man ihn aus dem Verkehr und benutzte ihn als Übungsflugzeug in Lossiemouth, bis er hier abstürzte. Vor zwölf Jahren ist das Wrack geborgen worden, man kann es in einem englischen Museum in Surrey besichtigen.“
In Abriachan hält Norrie an, wir steigen aus. Er zeigt auf die andere Seite des Sees. „Da drüben liegt Dores“, sagt er. „Ich wohne in dem weißen Haus am Hügel, meine Frau Lily betreibt das Postamt von Dores. Es ist das kleinste Postamt der Welt, nicht größer als ein Auto. Nur etwas höher.“ Als es im April 1987 eröffnet wurde, kamen Kamerateams aus der ganzen Welt.
Er deutet auf eine kleine schwarze Boje nicht weit vom gegenüberliegenden Ufer entfernt. „Dort haben meine Frau, mein Sohn und meine Schwägerin im Juli 1987 das Ungeheuer gesehen. Zwei Buckel ragten heraus, der Kopf blieb unter Wasser.“ Danach ließ er seine vier Kinder nur noch unter Aufsicht in dem kleinen Holzboot auf dem See herumrudern. Heute bleibt jedoch alles ruhig, wir fahren weiter nach Südwesten. Nach etwa zehn Kilometern führt die Straße hinunter ins Glen Urquhart, ein Stichtal, durch das der Coiltie und der Enrick in den Loch Ness fließen. An der Mündung liegt Drumnadrochit, ein kleiner Ort, der vom Ungeheuer lebt. Er beherbergt gleich zwei „offizielle Loch-Ness-Monsterausstellungen“ – autorisiert von Nessie? Wir sehen uns die ältere der beiden an, um für die Monsterjagd wissenschaftlich gewappnet zu sein.
300.000 Menschen im Jahr zahlen Eintritt für das alte Gemäuer von 1882, das früher ein Hotel war. Der Besitzer, Ronnie Bremner, ist mehrfacher Millionär. Jetzt will er das Museum verkaufen – für eine Million Pfund. Die Ausstellung ist vor ein paar Jahren modernisiert worden, um mit der Konkurrenz am anderen Ende des Ortes mithalten zu können, sagt Norrie.
Es ist stockfinster. Plötzlich ertönt eine Stimme aus einem Lautsprecher und erzählt von der wundersamen Wanderung Schottlands, die – im Gepäck von Kanada – über Australien und Nordamerika nach Europa führte. Im dritten Raum, endlich, das Ungeheuer: Zum ersten Mal ist es im Jahr 565 aufgetaucht, als es einen Mönch angriff, der im See badete. Der heilige Columban, zu dessen Gefolgschaft der Mönch gehörte, bekreuzigte sich geschwind, und Nessie suchte das Weite. Jahrhundertelang ließ sich das Ungeheuer danach nicht mehr blicken.
1933 tauchte es wieder auf – ausgerechnet vor John Mackay und seiner Frau, denen das Drumnadrochit-Hotel damals gehörte. Der Inverness Courier, die Lokalzeitung, berichtete ausführlich darüber, und am nächsten Tag war das Hotel voller Reporter aus London. Es dauerte aber noch ein Jahr, bis es gelang, ein Foto von Nessie zu schießen: Oberstleutnant Robert Wilson, ein Gynäkologe, machte das berühmte, unscharfe Bild vom Ungeheuer am 19. April 1934. Fast 60 Jahre hielt es als Beweis für Nessies Existenz her.
Dann wurde es als Schabernack des Oberstleutnants entlarvt. Wilson hatte ein Spielzeug-U-Boot als Monster verkleidet. Die Idee stammte von Marmaduke Arundel Wetherell, einem Schauspieler und Abenteurer. Wetherells Stiefsohn Christopher gestand den Schwindel vor vier Jahren, als er mit 90 Jahren auf dem Totenbett lag.
„Ein kleiner Rückschlag“, meint Norrie, „aber interessanter als die guten Fotos sind doch die undeutlichen, unerklärlichen Bilder, die nicht auf eine Sensation angelegt sind, sondern durch Zufall entstanden sind. Und dann ist da ja auch die Sache mit John Cobb.“ Cobb versuchte im September 1952 mit seinem Motorboot „Crusader“ auf dem Loch Ness einen neuen Geschwindigkeits-Weltrekord aufzustellen. Als er über den See raste, tauchte aus heiterem Himmel eine V-förmige Welle vor ihm auf. Das Boot zerschellte, Cobb war auf der Stelle tot. Tim Dinsdale, der das Ungeheuer 1960 auf Zelluloid gebannt hatte, sah sich die Aufnahmen vom Weltrekordversuch an und kam zu dem Schluß, daß Nessie vor dem Höllenlärm des Bootes geflüchtet sei und dabei die merkwürdige Welle verursachte.
Es gibt über tausend Augenzeugenberichte von Menschen, denen Nessie begegnet ist. Das Ungeheuer hat viele Formen: Mal ist es seeschlangenförmig, mal drachenförmig und manchmal plesiosaurusförmig. Gibt es mehrere Monster im Loch Ness? Freilich sind viele Berichte von vornherein als Hirngespinste zu erkennen, doch einige stammen von ernstzunehmenden Zeitgenossen, etwa vom Benediktinerpfarrer Gregory Brusey und seinem Freund Roger Pugh, die im Oktober 1971 „den Hals des Biests bis auf eine Höhe von zehn Fuß aus dem Wasser aufragen“ sahen.
1940 mischte sich auch Joseph Goebbels in die Diskussion um Nessie ein. Eine Nation, so schrieb der Nazi-Propagandaminister in der Hamburger Illustrierten, die an solchen Quatsch glaube, sei so ungeheuerlich dumm, daß sie keinesfalls den Krieg gewinnen könne. Ein Jahr später berichtete die italienische Faschistenzeitung Popolo d' Italia, daß mutige italienische Kampfflieger eine Bombe über Loch Ness abgeworfen und das Ungeheuer getötet hätten.
Es gibt sogar ein offizielles Loch-Ness-Untersuchungsbüro. Einer der Gründer, Sir Peter Scott, gab dem Ungeheuer einen wissenschaftlichen Namen: Nessiteras Rhombopteryx, „das Wunder von Nessie mit der diamantförmigen Flosse“. Durch einen unglücklichen Zufall ist der Name ein Anagram für „Monster Hoax by Sir Peter S“: Monsterschwindel von Sir Peter S.
Bei der Saurierhatz hat man auch selbstgebaute Ein-Mann-U- Boote und Sonargeräte eingesetzt – Hunderte kleiner Detektoren, die aussehen wie Autoreifen mit einem Deckel. Sie orteten immerhin „große, sich bewegende Objekte“. Außerdem fand man eine arktische Fischart, die bis dahin als ausgestorben galt. Die Fische fühlen sich offenbar wohl in 200 Meter Tiefe, wo die Wassertemperatur bei fünf Grad liegt. Nur die obersten 30 Meter erreichen im Sommer eine Temperatur von 12 Grad. Er habe noch nie im See gebadet, gesteht Norrie: „Nur besonders Abgehärtete oder Verrückte springen hinein.“ Wir gehen ans Ende der Bucht, wo sich auf einer Klippe die Überreste der Burg Urquhart erheben. „Es war früher eine der größten Befestigungsanlagen Schottlands“, sagt Norrie. Zum ersten Mal schriftlich erwähnt wurde die Burg im 13. Jahrhundert. Sie ist im Laufe der Zeit immer wieder angegriffen, teilweise zerstört und erneut aufgebaut worden, bis die königlichen Truppen sie 1692 schließlich in die Luft jagten, damit sie nicht den Jakobitern in die Hände fiel.
Auf dem Parkplatz neben dem Fußweg zur Burgruine parkt ein Reisebus, zwei Dutzend tschechische Schulmädchen steigen aus und gehen kichernd den gewundenen Weg zur Burg hinunter. Sie sprechen über Nessie, das versteht man auch ohne Tschechischkenntnisse. „Im Sommer kannst du hier vor lauter Touristen kaum treten“, weiß Norrie. „Ein Freund von mir steht dann täglich zehn Stunden auf dem Parkplatz und spielt Dudelsack. Er ist zwar kein begnadeter Piper, aber er verdient sich ein Vermögen.“
Im großen Steintor, dem Eingang zu der Anlage, ist ein Verließ eingebaut – mitsamt künstlichen Spinnweben und einem bärtigen jungen Mann mit zerrissener Kleidung. Neben dem Tor ist eine Orientierungstafel angebracht. „Sie sind hier“, steht in vier Sprachen neben dem roten Pfeil. Weiter links ist das Turmhaus, der besterhaltene Teil der Burg. Jemand hat mit einem Filzschreiber das Ungeheuer auf der Tafel eingezeichnet.
Eine schmale Wendeltreppe führt auf den Turm hinauf, in die Wand sind Haken mit einem dicken Seil eingelassen, damit man sich festhalten kann. Im Sommer regelt vermutlich jemand den Verkehr, denn zwei Personen kommen auf der engen Treppe nicht aneinander vorbei. Von oben kann man einen Großteil des 36 Kilometer langen und zweieinhalb Kilometer breiten Sees überblicken. Die Oberfläche des Sees ist spiegelglatt. „Das ist gut so“, sagt Norrie, „Nessie taucht nur bei schönem Wetter auf, denn wenn es warm ist, kommen auch die Fische, Nessies Nahrung, dichter an die Wasseroberfläche.“
Der See ist tiefschwarz und scheint undurchdringlich. „Verstehst du jetzt“, fragt Norrie, „warum man dem See auch mit modernster Technologie nicht zu Leibe rücken kann? Auch mit den stärksten Lampen kann man wegen der Torfpartikel unter Wasser nicht weiter als drei, vier Meter sehen.“ Loch Ness ist stellenweise bis zu 300 Meter tief, er enthält mehr Wasser, als alle anderen britischen Seen zusammen. „Es gibt da unten viele Höhlen und Ausbuchtungen“, erzählt Norrie, „wer weiß, was da alles herumschwimmt.“
Plötzlich kommt Bewegung in die Wasseroberfläche. Etwa hundert Meter vor uns beginnt sich das Wasser in einer Art Strudel zu drehen, erst langsam, dann immer schneller, und schließlich kommt etwas Braunes, Glänzendes zum Vorschein. Es hebt sich in die Luft, dreht sich langsam zu uns herüber und verharrt einen Moment lang regungslos. Dann sinkt es wieder hinab, und als es im See verschwindet, wird es vom Wasser mit einem gurgelnden Geräusch bedeckt. Kaum eine Minute später ist der See wieder spiegelglatt.
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