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Aufbruch statt Ausbruch

Theater hinter Gittern: Das Ensemble „AufBruch“ setzt „Unruhe, Chaos, Bewegung“ gegen Resignation und Mangel an Freizeitangeboten im Knastalltag  ■ Von Holger Wicht

„Ich bin ein Betrüger“, erklärt der kräftige Herr im roten Frack und stellt drei Silberbecher zum Hütchenspiel auf. „Kein Glücksspiel!“ warnt fröhlich ein Vollzugsbeamter und geht seines Weges, während einige Gefangene ihren Hofgang unterbrechen, um sich betrügen zu lassen. Einen, der aussieht wie ein Zirkusdirektor, trifft man nicht jeden Tag im Gefängnishof. Während Zauberer Erasmus Weintrauben unter seinen Bechern verschiebt, beginnen einige Männer in Arztkitteln afrikanische Trommeln zu schlagen. Langsam füllt sich der Hof des Teilbereiches 5 der JVA Tegel, der den Charme einer Plattenbausiedlung mit vergitterten Fenstern ausstrahlt. Irritierte Blicke der Gefangenen – die Schließer halten sich im Hintergrund. Unter den Silberbechern liegen anstelle der Weintrauben plötzlich Apfelsinen. Da ist das Eis gebrochen, die Verunsicherung schlägt um in Heiterkeit.

Roland Brus, der Regisseur des Spektakels, erklimmt ein fahrbares Rednerpult. „Wir sind vom Ensemble ,AufBruch‘, und wir kommen hierher, um mit euch darüber zu reden, was man hier verbessern könnte.“ Die „Anstaltstherapeuten“ in den weißen Kitteln notieren die Zurufe der Häftlinge auf Mängellisten: „Wir brauchen mehr Ausgang!“ – „Jüngere Beamte!“ – „Frauen!“ – „Entlassungsscheine!“ – „Tic Tac Toe“, faßt schließlich einer zusammen. „Wir werden uns bemühen, Sie alle zufriedenzustellen“, verspricht ein Sprecher des Ensembles.

Der „AufBruch“ im Knast wird nicht zum ersten Mal geprobt. Die Truppe um Roland Brus, ehemals Regisseur des Obdachlosentheaters „Ratten 07“, geht regelmäßig freiwillig hinter Gitter, um mit Performances eine Brücke nach draußen zu schlagen. Dem tristen Knastalltag, dessen Regeln weniger auf das Wohlergehen der Gefangenen als auf einen reibungslosen Ablauf zielen, wolle das „AufBruch“-Ensemble „Unruhe, Chaos, Bewegung“ entgegenstellen, sagt Brus. So zuletzt beim großen „Mittelalterlichen Gelage“ im Bereich für die „Langstrafer“. Ein rüpelhafter Roter Ritter mit Alkoholproblemen kämpfte für das Gute, ein Burgfräulein verlas eine Burgordnung, die den Gefangenen verdächtig bekannt vorkam, und selbst ein Ziegenbock durfte die Sicherheitskontrollen passieren.

Mittlerweile machen die Häftlinge selbst Theater. „AufBruch“ hat eine „Gefangenentheatergruppe“ initiiert, deren erstes Stück kommende Woche Premiere feiert. Zwanzig Gefangene spielen gemeinsam mit vier professionellen SchauspielerInnen „Stein und Fleisch“, ein Stück, das sie mit dem „freien“ Autor Hans-Joachim Neubauer selbst verfaßt haben – „kein Stück über Tegel“ und eben doch ein Stück über Tegel, über den Knastalltag, der mit seinen rigide vorgeschriebenen Rollen für Bewacher und Bewachte selbst Theater ist. „Stein und Fleisch“ aus der Sicht seiner MacherInnen: „Gefangene sind auf dem Weg nach Rom. Das Imperium zwingt sie in seine Mauern: sie bauen den Zirkus, sie trainieren für die Arena. Qual und Schmerz der einen sind das Geschäft der anderen. Wo der Aufstand scheitert, da müssen die Götter helfen.“ Viermal wird „Stein und Fleisch“ demnächst gegeben, etwa ein Drittel des Publikums soll von „draußen“ kommen.

Die Männer in den weißen Kitteln verteilen mittlerweile Einladungen zu den Theaterabenden. Roland Brus steht noch immer auf seinem Pult. „Die Schauspieler findet ihr da drüben an den Fenstern!“ ruft er und weist auf die Gitterfront der benachbarten Teilanstalt 5. Eine junge Schließerin erkundigt sich bei einem Kollegen nach dem Hintergrund des seltsamen Treibens. „Ausbruch kenne ich, aber ,AufBruch?‘“

Der Troß zieht weiter. In der „Sozialtherapeutischen Abteilung“ des ehemaligen Zuchthauses soll ein weiteres Gastspiel in eine Diskussion münden. Thema: „Und abends auf dem Wohnklo – freie Zeit im Knast“. Das Ensemble schwärmt aus, um die Inhaftierten im wahrsten Sinne des Wortes zusammenzutrommeln. Diesmal mit mäßigem Erfolg. Sind die Gefangenen allzu verunsichert von „Unruhe, Chaos, Bewegung“? Ist „AufBruch“-Stimmung schwer vermittelbar? „Viele haben längst resigniert.“ Auch darum geht es dann bei der Diskussion, veranstaltet vom „Bildungswerk Berlin der Heinrich-Böll-Stiftung“, zu der schließlich doch etwa zwanzig Häftlinge erschienen sind. Ihren Fragen und ihrer Kritik stellen sich der Leiter der sozialpädagogischen Abteilung in Tegel, Klaus-Dieter Blank, und der bündnisgrüne Rechtspolitiker Norbert Schellberg sowie Vertreter des gemeinnützigen Vereins „Kunst und Knast“, der die Arbeit von „AufBruch“ unterstützt. Freizeitangebote – da sind sich alle einig – sind Mangelware in Europas größter Verwahranstalt dieser Art. Kein Geld, sagen die Verantwortlichen, Honorarkräfte und Material sind schlicht nicht finanzierbar. „Wir könnten ,AufBruch‘ nicht mal 20 Mark für eine Handvoll Schrauben geben“, bedauert Blank. Die JVA sei absolut abhängig von ehrenamtlichem Engagement. „Aber ,AufBruch‘ hat auch mal ein Ende“, sagt ein Gefangener, „was passiert dann?“ Andere berichten, wie Initiativen seitens der Inhaftierten von der Gefängnisleitung erschwert würden. „Wer eine Gruppe gründen will, macht genau den Beamten mehr Arbeit, die hinterher Berichte über ihn schreiben“, sagt einer, „da ziehen sich die ersten schon zurück.“ Ein anderer moniert, daß nicht ein einziger der zuständigen Sozialarbeiter zur Diskussion erschienen ist. Nicht mal das.

„AufBruch“ wird das Rednerpult demnächst mit einem Megaphon ausstatten. Eine mobile „Speaker's Corner“ soll es werden, ein Podium für jedermann, dessen Stimme ansonsten in Anstaltsfluren verhallt.

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