Freilichtmuseen für Kulturtouristen

Avila, Segovia und Salamanca im spanischen Kastilien sind Unesco-„Kulturerbe der Menschheit“  ■ Von Angela Aguilar

Wenn die rötliche Abendsonne auf dem wuchtigen Bauwerk liegt und den Sandstein in fettem Ocker aufglänzen läßt, reibt man sich verwundert die Augen: Disneyland mitten in Kastilien? Als wäre sie gerade fertig worden, erhebt sich eine zweieinhalb Kilometer lange Stadtmauer rings um ein mittelalterliches Städtchen. Quader auf Quader, zwölf Meter hoch und drei Meter dick. Ein Freilichtmuseum für kulturbeflissene Touristen?

Doch das Modell ist echt. Eine Autostunde von Madrid entfernt lehnt sich Avila an die Gebirgskette der Sierra de Gredos. Mit 1.127 Metern ist sie die höchstgelegene Stadt Spaniens, eingemauert in die besterhaltene mittelalterliche Befestigungsanlage der Welt. 88 massive Türme, 2.500 Zinnen und 9 Tore, die dank vorausschauender Baumeister des 11. Jahrhunderts sogar Kleinbusse und Müllwagen passieren lassen, zeugen noch immer vom wehrhaften Charakter. Schon im ersten Jahrhundert wurde sie vom heiligen Bischof Segunda christianisiert und war im Mittelalter Residenz vieler kastilischer Könige.

Das einst weltberühmte Städtchen, eine der Geburtsstätten der Inquisition und Heimat der großen Sprach- und Ordensreformerin Teresa von Avila, ist bei ausländischen Gästen so gut wie unbekannt. Noch reichen die fünfhundert Hotelbetten aus. Die wenigen Touristen, die durch die verwinkelten Gassen an den prächtigen Palästen des 16. und 17. Jahrhunderts vorbei ziehen, finden auf ihren Tagestrips von Madrid und zurück oft nur Zeit für die äußerlich eher unscheinbare, innen aber reich ausgestattete Kathedrale. Diese erste gotische Kirche Spaniens ragt – gemessen an den damals höchstens dreitausend Bewohnern Avilas – viel zu üppig über die Altstadt hinaus. Im 13. Jahrhundert mußte sie sich die wenigen Einwohner des tiefgläubigen Ortes mit 18 weiteren Kirchen teilen, von denen die meisten auch heute noch stehen.

Daß Kastilien verwöhnt ist mit historischen Andenken an die Blütezeit Spaniens, als das Land dank seiner Kolonien zur Weltmacht wurde, hat vor etwa zehn Jahren auch die Unesco honoriert. Neben Avila hat sie in diesem Landstrich auch die beiden anderen mittelalterlichen Orte Salamanca und Segovia zum „Kulturerbe der Menschheit“ ernannt.

Vor allem in Salamanca waren die Stadtoberen nicht recht glücklich über die Auszeichnung. Einige hätten das „kleine Rom“, wie die frühe Universitätsstadt wegen ihrer prachtvollen Palais, Kirchen und Klöster noch im 18. Jahrhundert bezeichnet wurde, gerne vom „historischen Ballast“ befreit und gründlich modernisiert.

Nach Jahrhunderten prächtiger Entwicklung, im wesentlichen dank der Universität und ihres politischen Umfelds, wird die Stadt Anfang des 19. Jahrhunderts bedeutungslos, weil die Elite nach Madrid abgewandert ist. Ganze Stadtteile entvölkern sich, fünfhundert historische Gebäude verfallen unwiderbringlich, Klöster werden von Adligen aufgekauft, die mit dem Grund und Boden spekulieren. Unter Franco kursieren schließlich Pläne, die Altstadt vollends zu entkernen und Straßen für militärische Aufmärsche zu verbreitern. Bürgerproteste können das Schlimmste verhindern. Dennoch wird 1960 das alte maurische Viertel abgerissen und Platz für teure Stadtvillen geschaffen.

Mitte der achtziger Jahre droht die Unesco-Auszeichnung mit ihren strengen Richtlinien zum Erhalt der historischen Denkmale, die Bauherrlichkeit der Bodenspekulanten einzuengen. Wie die Auflagen aber geschickt umgangen werden, bringt Denkmalschützer wie Maria José Frades aus der Fassung. Die Direktorin des Stadtmuseums fand bei einer Inspektion der Umbauarbeiten eines ehemaligen Ordensstifts neben einer gerade freigelegten alten Bischofsstatue auch noch eine „kleine Sensation“: eine der seltenen Schrifttafeln aus der Zeit, als Salamanca römische Siedlung war. Unter einem Vorwand schickten Bauarbeiter die alarmierte Denkmalschützerin kurz weg. Als sie zurückkam, war die vielversprechende Fund- Grube bis zum Rand zubetoniert. Die Bauherren betrachten den Fall für erledigt. Brandbriefe, die die verzweifelte Museumsdirektorin öfters an die Unesco schickt, bleiben unbeantwortet.

Auch der Stadtrat läßt sich von solchen Fällen selten aufschrecken. In dem Gremium sitzen einflußreiche Familien, die sich nicht gerne in die Karten schauen lassen möchten, wenn sie ihre denkmalgeschützten Palais restaurieren.

Doch immer noch hat die alte Stadt genug zu bieten, um Reisende ein paar Wochen intensiv zu beschäftigen: die prächtige Plaza Major, die alte und die neue Kathedrale, die 1200 gegründete Universität mit ihrer alten Bibliothek, in der über 2.700 Handschriften – die älteste aus dem Jahre 1059 – aufbewahrt werden.

Von den 180.000 Einwohnern sind 40.000 Studenten. Doch wer von ihnen weiß, daß er/sie vor der Abschlußprüfung eine Nacht lang die Füße auf den steinernen Sarkophag des weisen Bischofs Juan Lucere stellen muß, um das Examen zu bestehen? Der fromme Mann ist in der Santa-Barbara-Kapelle der von ihm 1344 gestifteten Alten Kathedrale aufgebahrt. Seine Weisheit soll sich durch nächtliche Berührung übertragen. Jahrhundertelang haben es die Prüflinge so gehalten, und die wenigsten sollen hinterher versagt haben.