■ Tour d'Europe: Ausbildung für alle
Eine Schulpflicht gab es in Deutschland erstmals im Jahre 1717. Frankreich und einige andere europäische Länder folgten wenig später. Es dauerte trotzdem bis Anfang des 19. Jahrhunderts, bis die Französische Revolution, die industrielle Umwälzung in England und später auch in anderen Ländern die Regierenden in ein flächendeckendes öffentliches Schulwesen investieren ließen.
Die Schulen waren von Anfang an kostenlos, ihr Besuch für alle Kinder zwischen fünf und dem Eintritt ins Arbeitsleben mit zehn Jahren obligatorisch. Die öffentlichen Schulen lösten damit die Familie als Ort der Ausbildung ab. Zur Grundausbildung gehörten Lesen und Schreiben, die Grundrechenarten, ein Einblick in Geographie und Geschichte sowie die Vermittlung von Hygiene und moralischen, ethischen Werten.
Die Kinder der Oberschicht gingen selbstverständlich weiterhin auf ihre Eliteschulen, die sie auf ein Hochschulstudium vorbereiteten. Es sollte bis nach dem Zweiten Weltkrieg dauern, bis auch die weiterführende Schulbildung und damit die Universitäten für alle geöffnet wurden.
Die Länder, die bereits Anfang des letzten Jahrhunderts ihr Schulsystem auf- und ausbauten, schlugen unterschiedliche Wege ein. So entwickelte Frankreich ein zentralisiertes, streng laizistisches Schulwesen, in dem bis heute der republikanische Citoyen herangezogen wird. Demgegenüber entstand in Deutschland, Belgien und, seit Ende der Franco-Diktatur auch in Spanien, ein dezentrales Schulwesen. Am stärksten wurden und werden in britischen Schulen die Werte der Vielfalt und der Freiheit hochgehalten und die nationale Einheit im Schulsystem abgelehnt. In Verbindung mit den starken Sozialkürzungen und einer Schulreform unter Margaret Thatcher, die die freie Wahl der Schule und eine marktwirtschaftliche Verwaltung der Zentren durchsetzte, führte dies zu schweren sozialen Unterschieden in der Bildung.
In Deutschland hat es ebenfalls nie ein einheitliches Schulwesen gegeben. Die Ausbildungshoheit liegt heute bei den Bundesländern, deren jeweiliges Kultusministerium über Aufbau des Schulsystems und die Lehrpläne entscheidet, die dann allerdings im ganzen Bundesland für alle verpflichtend sind.
Wo die industrielle Revolution auf sich warten ließ, hatte dies direkte Auswirkungen auf das Schulwesen. So kämpft der gesamte Mittelmeerraum (Portugal, Spanien, Italien, Griechenland) heute mit einer Folge von Versäumnissen bei der Entwicklung eines öffentlichen Schulwesens. Die Schulpflicht und vor allem deren tatsächliche Umsetzung wurde hier viel später eingeführt als in den Ländern Mittel- und Nordeuropas. Unterricht für alle bis 14 Jahre gibt es zum Beispiel in Spanien erst seit 1971, bis 16 seit 1986. Die Unfähigkeit des Staates, die erforderliche Schulbildung zu gewährleisten, führte in Südeuropa zu einem starken privaten, meist kirchlichen Schulwesen.Isabel Galvín
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