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Du sollst nicht fehlficken...

Fassungslose Eltern, feindselige Mitschüler und das Gefühl, „so einer“ eigentlich nicht sein zu wollen, waren früher Garanten für einen schmerzhaften Weg zur schwulen Identität. Heute sei Coming-out „schneller, jünger, provinzieller“, schreibt Werner Hinzpeter in seinem Buch „Schöne schwule Welt“, das in der Schwulenszene für erhitzte Debatten sorgt. Auch in kleinen Städten gebe es heute eine schwule Infrastruktur, meint Hinzpeter, das Durchschnittsalter, in dem Jugendliche den Schritt in die Szene tun, sinke beständig, und viele bräuchten nicht einmal mehr eine Beratung. Coming-out – ein Thema von vorgestern?

Vorgestern hat Daniel beschlossen, gerichtlich gegen seine Eltern vorzugehen, die ihm sein schwules Leben verbieten wollen. Schwule sind für sie eine perverse Verführerbande, die Hand an ihren Sohn legen will. Vor einigen Wochen hat der 16jährige sein Elternhaus in einer Kleinstadt bei Köln verlassen und lebt seitdem in Krisenübernachtungsstellen und Heimen. „Die nachwachsende Generationen“, weiß Werner Hinzpeter, „erleben Homosexualität mehr und mehr als eine Spielart der Sexualität statt als Normwidrigkeit“. Ist Daniel ein Einzelfall?

Tatsächlich berichten immer jüngere Jugendliche von immer weniger Problemen beim Coming-out. Das ist und bleibt erfreulich, läßt aber leicht übersehen, daß es vielen noch immer anders ergeht. Eltern, die ihr Kind von der Homo-Disco abholen, um es vor der gefährlichen S-Bahn-Fahrt zu bewahren, gibt es heute ebenso wie solche, die gleichgeschlechtliche Liebe mit Hieben oder Hausarrest quittieren. Diese Extreme sind Ausdruck eines Wandels, der noch immer Aufklärungsarbeit verlangt. Der positive Trend nutzt jenen wenig, deren Umfeld noch nicht davon erfaßt wurde.

Die Verletzungen, die schwule Jungen während ihrer Sozialisation erleiden, liegen zudem tiefer als auf der Ebene bewußt erlebter Diskriminierung. Der Sexualforscher Martin Dannecker berichtet, die meisten schwulen Männer erinnerten sich an ihre Kindheit mit dem Gefühl, „schon immer anders als die anderen gewesen zu sein“, weil sie nicht in das „jeweils geläufige Stereotyp von Jungenhaftigkeit“ paßten. Der Empiriker kommt zu einem anderen Schluß als Hinzpeter: „Immer noch fällt es den Homosexuellen im Coming-out schwer, ihre Sexualität ohne Konflikte anzunehmen, und das auch dann, wenn sie meinen (...), daß ihre signifikanten Anderen (zum Beispiel ihre Eltern) homosexuelle Männer nicht ablehnen.

Nach wie vor erleben nur wenige Kinder und Jugendliche ganz selbstverständlich Homosexuelle in ihrem Umfeld. Rollenangebote finden sich nicht ohne Grund erst ihn Nischen. Wer sie betreten will oder muß, wird allerdings mit neuen Wert- und Normvorstellungen konfrontiert – ein Coming-out ist immer auch ein Coming-in. Nicht selten erhebt die Subkultur das Stigma zur Norm: Du sollst nicht fehlficken in Gedanken, Worten und Werken. Viele Jugendliche reagieren auf die Rettung durch die neue Zugehörigkeit mit gründlicher Identifikation. Andere haben heute keine Lust mehr, die neue Freiheit mit einem anderen Reinheitsgebot zu bezahlen. Holger Wicht

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