Aufrichtig unaufrichtig

■ „Poesie und/oder Kunst“: der letzte Dadaist und frühe Kunst-hinterfragt-Kunst-Künstler Broodthaers in der „Kunstbibliothek“der Weserburg

Marcel Broodthaers, den Namen nie gehört, dann: ein Riesen-Artikel in „Art“, gar eine Retrospektive auf der Kasseler Documenta. Vielleicht sollte man ihm nachträglich (Broodthaers ist 1976 52jährig verstorben) doch ein Plätzchen im persönlichen Wissensfundus freiräumen, Abteilung: Selbsthinterfragung der Kunst. Verdient hat er sich die Aufnahme durch sein Projekt des fiktiven Museums.

Malraux entwickelte in den 40ern die Idee des „imaginären Museums“als Antwort auf die „Reproduzier-barkeit“der bildenden Kunst in Film und Bildband: Kunst exisitiert nicht mehr primär in den Museen, sondern im luftigen Raum zwischen (damals relativ) neuen Medien und den Köpfen. Broodthaers „Musée d–Art Moderne, Departement des Aigles“ist eher eine Antwort (man könnte sagen: eine Verarschung) auf die Kommerzialisierung des Kunstbetriebs. Sein fiktives Museum konnte all das wunderbare, unverzichtbare Beiwerk eines anständigen Museums vorweisen, Einladungskarten, Plakate, Kataloge, Interviews, Diskussionsforen. Es fehlte lediglich – wie so oft – das Ding an sich, die Ausstellung. Es „ist ganz einfach eine Lüge, ein Trug“.

In virtuellen Zeiten natürlich eine topaktuelle Fragestellung: Ist eine Sache schon dann wirklich, wenn sie als Elektroimpulse durch unsere Synapsen flutscht, oder erst, wenn sie sich zur Hardware verfestigt? Vielleicht auch verdankt sich Broodthaers erlogenes Museum ganz einfach der (ebenfalls sehr zeitgemäßen) Lust am Foppen.

Guy Schraenens Abteilung „Künstlerbücher“im Museum Weserburg blättert kundig (allerdings ein wenig mager kommentiert) durch die querständige, selten eigen-ständige, eher sich an anderem abarbeitende Denkweise des Belgiers. Gerne nimmt Broodthaers existierende Buchideen auf, und treibt ihre Essentials zu einem seltsamen Schluß. Zum Beispiel Mallarmeés „Un coup de dés jamais nàbolina le hasard“(1897). Das Poem ist mit seiner variablen Typographie und seinem zeilensprengenden, die ganze Buchseite okkupierenden Layout nicht nur Ahnvater mancher 68er Lyrik wie der Rolf Dieter Brinkmanns, sondern auch der Buchstabenwirbeleien auf Party-Flyers. Broodthaers isoliert Mallarmeés Idee vom Bildnerischen in der Literatur und führt sie konsequent zu Ende – also ad absurdum: Den Text kleistert er mit schwarzen Balken zu, als sei's ein Schwerverbrecher. Wo Inhalt war, bleibt nur noch rhythmische Abstraktion.

Bei einem gemeinen Essay Baudelaires über Belgien gar läßt er nur Seitenumriß und Seitenzahl stehen. Ein Buch mit leergeputzen Rechtecken bleibt über. Dem Hygiene-, Ordnungs-, Symmetriefanatiker Baudelaire, dem jede „Begeisterung, die sich auf anderes als auf Abstraktes richtet, ein Zeichen von Schwäche und Krankheit“war, geschieht eigentlich nur Recht, – wohl mehr als ihm billig wäre.

In seinem „Atlas für Militärs und Künstler“macht sich Broodthaers die freie Wahl des Maßstabs durch den Kartographen zunutze für seine hierarchienzerstörende Aussage: Sind erst einmal alle Staaten auf gleiches Längenmaß gebracht, ist das eher schmale (West-) Deutschland kleiner als das runde Andorra. Mit diesem Atlas müßte die Machtfrage innerhalb Nato und EU neu gestellt werden.

Angefangen hat Broodthaers mit seinen, die Gattungsgrenzen zwischen Literatur und Kunst, Kunst und Kunstkritik überschreitenden Arbeiten aus Frustration. Seine Gedichtbände waren trotz niedriger Auflage nicht loszuschlagen. Ihre Nichtgelesenheit münzte er um in eine Nichtlesbarkeit und erklärte die zum Kunstwerk. Konkret: Er überklebte seine Texte mit Buntpapier und goß sie fest in Gips. Die Geburt des Künstlers Broodthaers aus dem enttäuschten Literaten.

Zur Seite stellte der Literaturvernichter seinen Untexten jene kunstverachtenden Äußerungen, die ihn in einem zynismusverliebten Kunstbetrieb berühmt machten und seine dauerhafte Anerkennung sicherten: „Auch ich habe mich gefragt, ob ich nicht etwas verkaufen und im Leben erfolgreich sein könnte... Endlich kam mir die Idee, etwas Unaufrichtiges zu tun...“

Und noch immer zählt das Eingeständnis der Unaufrichtigkeit zum Gipfelpunkt der Aufrichtigkeit. Eine hochinteressante Ausstellung, gewitzt und gehässig, die mitten ins Herz aktueller Fragen über Kunst und Markt zielt. Versteckt auf einem Zwischengeschoß der Weserburg sollte man den Außenseiter keinesfalls übersehen.

Barbara Kern

Bis 19. Oktober