: Laue Infohäppchen aus dem Speisewagen
■ Die neue Zugzeitung vom „Spiegel“ darf nicht frech sein. Nur die 1. Klasse kriegt sie
Berlin (taz) – In einer Zeit, in der Tageszeitungen in der Krise sind, gründet ausgerechnet das Wochenblatt Spiegel eine neue – und was für eine. Die ICE-Press ist in jeder Hinsicht ungewöhnlich: Sie ist die „schnellste Tageszeitung der Welt“, denn sie erscheint bereits eine Stunde nach ihrem Redaktionsschluß um 15 Uhr. Und das nicht am Kiosk, sondern in den ICE-Zügen der Bahn. Sie kommt nicht aus der Druckerei, sondern aus dem Laserdrucker im Abteil neben dem Speisewagen. Ungewöhnlich auch, daß die zwei aneinandergetackerten, doppelseitig bedruckten DIN-A 3-Zettel aus zusammengestottertem Agenturmaterial bestehen, wie es die Deutsche Presseagentur auch nicht langweiliger hingekriegt hätte.
Dabei könnte es der Vertriebsweg der Zukunft sein: Vielleicht kommt schon bald die Frühstückszeitung nicht mehr von der Briefträgerin, sondern per Modem aus dem heimischen Computerdrucker. In den ICEs funktioniert das genauso: Dort stehen jeweils ein PC mit Laserdrucker und ein Handy, an das die Daten gesandt werden. Schaffner verteilen die Zettel in der Ersten Klasse von 30 ICEs. 30.000 beträgt die Startauflage. Bis Ende des Jahres soll dann allen 104 ICEs die Zeitung zugefunkt werden.
Journalistisch bietet ICE-Press kleine Häppchen – deren Nachrichtenquelle bleibt verborgen. Offiziell heißt es, die Meldungen kämen nicht nur aus dem Agenturticker, sondern auch aus der großen Spiegel-Redaktion. Doch schon in der Probephase zeigte sich, daß die Kollegen aus der Magazinredaktion das Projekt im Stich lassen.
ICE-Press ist nicht anzusehen, daß sie aus dem Hause Spiegel stammt. Auch den lakonischen Ton sucht man vergeblich. Vorschläge aus der zwölfköpfigen Redaktion, wenigstens die Überschriften etwas flotter und frecher zu machen, bügelte Spiegel-Chef Stefan Aust persönlich ab: Er wolle den Auftrag nicht gefährden. Denn natürlich sitzt die Deutsche Bahn AG als Auftraggeber mit im Zug. Die Bahn will Marktforscher auf die Erste Klasse loslassen und dann, sagt Bahnsprecher Martin Katz, „mit dem Spiegel Änderungen beraten“. In der Ausschreibung mußte sich Aust gegen zwei Tageszeitungen und gegen Focus durchsetzen – und der Vertrag gilt zunächst nur ein Jahr. Kein Wunder, daß der Chefredakteur auf der Pressekonferenz dauernd betonte, ICE-Press sei eine ganz normale Tageszeitung. Der Qualitätsmarke Spiegel, fürchten Mitarbeiter, werde das nicht guttun.
Der Verlag will vor allem die neue Technik testen. Aust: „Ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Multimedia-Unternehmen.“ Wenn's klappt, darf vielleicht auch die Zweite Klasse mal an die Häppchen. Matthias Urbach
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