Frisieren und malträtieren

■ Magischer Realismus und sprachliche Nüchternheit: Kerstin Hensel führt in ihrem Erzählungsband „Neunerlei“ ein scharfes Skalpell auf äußerst engem Raum

Eine der kürzesten Erzählungen ist gerade mal vier Seiten lang und variiert die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern. Die längste mit dem Titel „Stinopel“ könnte mit ihren dreißig Seiten der Entwurf eines Romans aus barock- bayerischen Gegenden sein, der merkwürdigerweise im nordöstlichen Flachland der Republik spielt. Held dieser Bildungsgeschichte mit ungewissem Ausgang ist Mäxi Mühe, ein Knabe mit vielen Vätern, den man sich als Wonneproppen vorstellen muß. Von der ersten Sekunde seines Erdendaseins ißt er und gibt der Gemeinde Rätsel auf. Nicht mal Mutter Konstanze kann zu ihm vordringen, eine Magd, die nebenbei für die schnellen Gelüste der Mannen aus dem Dorfe Stinopel zuständig ist. Das einzig wirkliche Ereignis, das Spuren in Mäxis Leben hinterläßt, ist die Begegnung mit Henry. Auch der ein Knabe, den Hensel wie ein Geschöpf auftreten läßt, das nicht so recht von dieser Welt ist und jeden Moment von der Bildfläche verschwinden oder einen anderen von der Bildfläche verschwinden lassen könnte. Das überrascht bei einer Autorin, die in ihren ersten beiden Erzählungen nach dem Mauerfall („Im Schlauch“ und „Tanz am Kanal“) mit Figuren überzeugte, die sich durch nüchterne Lebenstauglichkeit und einen skeptischen Blick auszeichneten.

In ihrem neuen Erzählungsband nun hat man manchmal den Eindruck, Hensel bewege sich hin zum magischen Realismus eines Gabriel Garcia Márquez. Dann allerdings erdet sie ihre Exkursionen immer wieder in der ihr eigenen sprachlichen Nüchternheit. Sie beschreibt zwar surreale Welten und Figuren, die einige Zentimeter über dem Asphalt oder der Grasnarbe zu schweben scheinen, verliert sich aber nie in blumiger Sprache. Was sich ereignet, spricht für sich. Immer wieder kann Unvorhergesehenes passieren, überall ist der Boden brüchig, kann man durch Höhlen oder Erdspalten in die Erdkugel eindringen. Das hat was Erschreckendes, gleichzeitig aber ganz Normales. Mäxi etwa steigt mit Henry tatsächlich in ein Höllenreich ab, und da geht es auch ziemlich gespenstisch zu. Aber eigentlich ist Mäxi selbst ein kleines Springteufelchen und die Hölle in Wahrheit oberhalb der Grasnarbe, wo man ihn zum Dienst am Gewehr einziehen will. Und dann der „Ausflug der Friseure“ mit seiner steilen Spannungskurve. Die Herren der Lockenkunst treffen sich, aber anstatt ein Symposium abzuhalten, öffnen die mehr und mehr enthemmten Herren aus Kuba, Afrika und Europa ihre Picknickköfferchen, um zu essen, sich gegenseitig zu frisieren und zu malträtieren. Zuletzt machen sich alle am chinesischen Kollegen zu schaffen und skalpieren ihn, wie es sich für gute Friseure gehört. Das erzählt Kerstin Hensel auf etwas mehr als drei Seiten. Jürgen Berger

Kerstin Hensel: „Neunerlei. Erzählungen“. Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1997, 169 Seiten, 29,90 DM