Verwickelte Fragen im Ohr

■ Ein Jahr „Offenes Ohr“im Schulzentrum Walle: Psychologische Beratung für ausgelaugte BerufsschülerInnen

Wie ordentlich die Welt ist – vor dem Schulzentrum Walle an einem sonnigen Morgen. Junge Frauen tragen Blumen, zwischen Villen hockt das 1000jährige Reich wilhelminischer Schulbauten und schirmbemützte Männer diskutieren Klemmleisten. Wie schön! Nur Sarah aus der Elften lästert über die Hochplateaus bei den Berufsschülerinnen, aber Fanny weist sie umgehend zurecht.

Der Riß, der durch das Schulzentrum Walle geht – mit den Gymnasiasten hier, den Arzthelferinnen da – ist sozial kontrolliert. Aber sehr sanft. Am Ende der Gänge, oben im zweiten Stock gibt es einen „Lichtblick“. Sagt Renate Kuhn, die Lehrerin. Mit einem Strohteppich und schwarzen Sesseln, mit Pfefferminztee und dem Blick zur Kirche. Die Jahrespraktikanten Nick Nier und Britta Jaenecke feiern hier fast unbemerkt Abschied von ihrer psychologischen Beratung „Offenes Ohr“. Gerufen hatten die LehrerInnen sie im vergangenen Oktober.

Die Probleme, mit denen die Schülerinnen in der Berufsschule sie konfrontierten, wuchsen ihnen über den Kopf. „Konflikte im Übergang“, sagt Nick Nier, wenn sechszehnjährige Einzelkinder in den Berufsalltag eingeschleust werden. Wenn sie sich im Erwachsenenbereich erproben müssen und finanziell an die Eltern gekettet sind. Dabei hatte man in der Lehrerschaft so viele Pläne mit ihnen. Projekte wurden initiiert, von der selbstverwalteten Caféteria über handlungsorientierten Unterricht bis zum „Offenen Ohr“. Um am Schulzentrum mit den 700 SchülerInnen ein „Profil für Gesundheit und Kreativität zu entwickeln“.

Aber „die Berufsschüler sind dafür viel zu ausgelaugt“, sagt Renate Kuhn, die gemeinsam mit Barbara Larisch und Renate Haack-Wegener das „Offene Ohr“initiierte: Und wenn jetzt das neue Jugendschutzgesetz greife und die Flexibilisierung der Berufsschulzeit, dann seien die noch viel ausgelaugter, dann erwarteten die angehenden Apotheken- und ArzthelferInnen Arbeitstage bis neun Uhr abends. Und Schultage mit zehn Unterrichtsstunden. Für alle Fähigkeiten, „bis hin zum Glück“, gäb's dann wohl keinen Platz mehr. Auch das ganze Wahlpflichtprogramm könnten die Lehrer dann sausen lassen, mit Zusatzausbildungen im Internet, in Konfliktbewältigung, und Kreativem Schreiben.

Was kann eine Beratungsstelle mit zwei Psychologie-Praktikanten unter diesen Umständen noch anstellen? „Die verwickeln dich in ein Gespräch, damit du mit neuen Fragen weggehst“, sagt die wuschelköpfige Dominique. Und Sarah ging ein paar mal ins „Offene Ohr“, weil ihr „Leute auf den Senkel gingen“und sie nicht wußte „wie ich die los werde“. Nick Nier unterstreicht das: Daß die meisten der 30 Schüler, die sich während ihres zehnmonatigen Praktikums in ihr Refugium trauten, gar nicht mit schulischen und beruflichen Problemen zu ihnen kamen. Einer kam über Monate. Probleme hatte er mehr als genug – mit den Freunden, den Eltern, auch in der Schule. Damit kam er sechs Mal, dann flippte er aus. Wütend, genervt: Was nützt mir das?! Eure ständige Fragerei. „An dem Tag dachte ich auch: Ja was nützt das?“, sagt Nick Nier. Einen Monat später sei er wiedergekommen. Mit ein paar gezogenen Schlußstrichen.

Daß sie in ihrer Beratungsstelle nur Fragen stellen, würden die engagierten LehrerInnen nicht immer verstehen: „Die schütten die Schüler mit ihren klugen Ratschlägen zu. Das haben wir uns verkniffen, auch wenn es uns juckte.“ äff