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Der Treck der Strahlendompteure

Russische Atomingenieure marschieren gen Moskau, um Löhne einzutreiben und die desolate Sicherheitslage anzuprangern. Regierung will AKW-Monopol abschaffen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Was sich am Mittwoch abend im Wald vor Moskau an der Kiewer Chaussee abspielte, paßte zumindest optisch in einen Science-fiction-Thriller. Etwa 130 AtomphysikerInnen und -ingenieurInnen, Staat im Stich gelassen, drängten sich in weißen Kitteln und Käppis um Lagerfeuer. Einige von ihnen hatten sich, tapfer das Warnzeichen für Strahlungsgefahr hochhaltend, Hunderte von Kilometern, wie Hänsel und Gretel, durch die russische Natur geschlagen. Ihr ärmliches Schuhwerk war bis zur Auflösung strapaziert.

Nun, nahe der Hauptstadt, picknickten MitarbeiterInnen der Reaktoren Desnogorsk (bei Smolensk), Kalinin, Sosnowy Bor, Nowoworonesch und der Kola-Halbinsel das letzte Mal vor dem Marsch aufs „Weiße Haus“. Den absolvierten sie – aus der Ferne einer Sträflingskolonne ähnelnd – in der Nacht zum Mittwoch. Zahlreiche Transparente wiesen nicht nur auf die ihnen monatelang nicht ausgezahlten Gehälter hin, sondern auch auf „katastrophale Sicherheitsrisiken“ in den Reaktoren, die die „Atomschtschiki“ als Hauptanlaß für ihre Aktion bezeichnen.

Die Presseabteilung des Atomministeriums bekundete Unverständnis: Die Atomwerktätigen würden keineswegs vom Staat vernachlässigt, sie verdienten weit mehr als die meisten – nämlich im Durchschnitt zweieinhalb Millionen Rubel im Monat (circa 800 Mark) –, und schließlich habe man ihnen dieser Tage bereits die Gehälter für den Monat April ausgezahlt. Auch Sicherheitsrisiken stritt das Ministerium ab. Nur der Smolensker Reaktor hätte dieser Tage eigentlich besser geschlossen werden sollen, weil dort diskutiert statt gearbeitet würde.

Eine Art Pendelverkehr zwischen den Reaktoren und der seit dem 3. Juli wandernden Kolonne sorgte für regelmäßigen Schichtwechsel. Und die 80 Leute aus Smolensk – der harte Kern –, die die Gesamtstrecke von 360 Kilometer zu Fuß zurücklegten, nutzten dafür den Sommerurlaub. Ihr Reaktor, so betonten sie, sei seit 15 Jahren nicht mehr gründlich renoviert worden und werde von ihnen mit allem geflickt, „was wir gerade so zur Hand haben“.

Die zuletzt über 200 AtomspezialistInnen empfing am Donnerstag in Moskau der erste Vizepremier Boris Nemzow. Mit rotem Kopf beschimpfte Nemzow vor allem die Aktiengesellschaft „EES- Rossija“ als einen Haufen von „Banditen“. Die Firma hat das Monopol auf den Atomstrom im Lande. Die Belegschaft zahlt sie teilweise in Naturalien aus, mit nicht immer erwünschten Waren. Nemzow versprach, dieses Monopol abzuschaffen und den „Atomschtschiki“ ihre Gehälter auszuzahlen – beides ab sofort.

Inzwischen hat Präsident Jelzin den Atomminister Wiktor Michajlow zum Kotau in seine Sommerresidenz in Karelien bestellt. Anatoli Poluschkin, Elektriker auf dem Smolensker Reaktor, verlieh der Hoffnung Ausdruck, daß die Aktion doch gefruchtet haben müsse: „Die Regierung sitzt auf einem Pulverfaß. 360 km sind bei einem GAU keine Entfernung. Wenn unser Samowar platzt, haben die hier keine Zeit mehr, ihre Koffer zu packen.“

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