: Schabowski empfindet Schuld
Im Politbüroprozeß gesteht der ehemalige Berliner SED-Bezirkschef Günter Schabowski erneut seine moralische Schuld ein, lehnt aber den Vorwurf des dreifachen Totschlags ab ■ Aus Berlin Severin Weiland
Zwei Stunden lang hatte Günter Schabowski vor der 27. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts Rede und Antwort gestanden, hatte am Morgen eine elfseitige Erklärung verlesen und sich darin zu seiner moralischen Schuld für die Toten an der DDR-Grenze bekannt. Horst Schmidt, Vater eines 20jährigen, der 1984 an der Mauer erschossen wurde, blieb dennoch skeptisch. Es sei zwar gut, daß wenigstens einer ehrliches Bedauern zeige, doch glaube er Schabowski „nicht alles“, sagte der Nebenkläger.
Schabowski, einst 1. SED-Bezirkschef von Ost-Berlin, hatte schon Anfang 1996 zu Beginn des Verfahrens Reue gezeigt. Nach dem Ausscheiden mehrerer Angeklagter – zuletzt wurde das Verfahren gegen Horst Dohlus aus gesundheitlichen Gründen abgetrennt – wird mit einem baldigen Ende des Verfahrens gerechnet. Wohl deshalb hielt es Schabowski am 106. Verhandlungstag für angebracht, noch einmal seine Sonderstellung herauszustreichen. Der 68jährige, der heute als Redakteur bei einem hessischen Anzeigenblatt arbeitet, hatte sich von Anbeginn von der Verteidigungsstrategie der übrigen Angeklagten distanziert. Während Egon Krenz, letzter SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsitzender, der Justiz das Recht zum Urteil abspricht, versuchte sich Schabowksi im Spagat. „Es ist kein politischer Prozeß. Aber der Prozeß ist ein politischer Vorgang“, brachte er gestern seine Haltung auf eine Kurzformel. Er bleibe dabei, daß „dies keine Siegerjustiz ist“. Den Vorwurf des dreifachen Totschlags wegen der Erschießung von Flüchtlingen an der Mauer wies er aber zurück. Zwar trage er als einstiges Politbüromitglied eine „politische und moralische Mitschuld“, er habe aber nicht mit vorsätzlichem „Täterwillen“ in dem Gremium gesessen.
Die anschließende Befragung durch den Vorsitzenden Richter Josef Hoch geriet streckenweise zur mündlichen Wiederholung dessen, was Schabowski vor sechs Jahren zwei jungen Journalisten in dem Buch „Das Politbüro“ mitgeteilt hatte. Dort habe nicht die „Mentalität eines bürgerlichen Kabinetts“ geherrscht, sondern ein „messianisches Weltbild“. Die Frage, ob das Politbüro auf das Grenzregime hätte Einfluß nehmen können, beantwortete Schabowski mit Formulierungen, wie sie der einstige SPD-Ostexperte Egon Bahr als Zeuge im Gericht gebraucht hatte: Wer dies getan hätte, wäre für verrückt erklärt worden. „Absurd“ nannte er auch die Vorhaltungen, die DDR hätte die Grenze durch Sperranlagen so sichern müssen, daß von der Schußwaffe nicht hätte Gebrauch gemacht werden müssen. Wie weit Schabowksi vom Grenzregime Kenntnis hatte — eine Frage, die bei der Strafbemessung eine Rolle spielen wird —, blieb gestern unklar. Als Zivilist, der nicht dem mit Grenzfragen betrauten Nationalen Verteidigungsrat angehörte, habe er viele Details erst im Prozeß erfahren. Widersprüchlich blieb seine Rolle als SED-Bezirkschef, wie sie bei der gestrigen Befragung deutlich wurde: 1992 hatte er als Zeuge der Polizei erklärt, die DDR-Grenztruppen hätten ihn von allen spektakulären Fluchten in Kenntnis gesetzt, zwei Jahre später beteuerte er gegenüber der Staatsanwaltschaft das Gegenteil. Er sei zwar informiert worden, so Schabowski, aber stets oberflächlich und „niemals regelmäßig“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen