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Der Moment, als Ullrich Virenque überholt

■ Mit dem Sieg im Zeitfahren von St. Etienne baut der Telekom-Profi die Tour-Führung aus

Berlin (taz) – Es gibt Momente, vielmehr psychologische Konstellationen, in denen auch den härtesten Männern Zweifel an einem Gelingen ihrer Mission kommen müssen. Als man sich gestern am frühen Abend St. Etienne eben wieder näherte und der einzige hinter ihm gestartete Fahrer den Festina-Profi Richard Virenque überholte, war so ein Moment gekommen.

Kurz schaute der Franzose auf, da war Jan Ullrich auch schon vorbei. Und damit für ihn alles? Nun, es war zumindest der dramaturgische Höhepunkt, auf den sich das gestrige Bergzeitfahren der Tour de France von Anfang an und nahezu unweigerlich zubewegt hatte.

Telekom-Profi Ullrich gewann dieses Einzelzeitfahren über 55 km rund um St. Etienne, holte nach 1:16:24 Stunden seinen zweiten Etappensieg und baute die Führung im Gesamtklassement der Tour de France auf 5:42 Minuten gegenüber Virenque aus. Der wurde immerhin überraschend Zweiter (3:04 min zurück) vor Vorjahressieger Bjarne Riis (Telekom/3:08).

Als Ullrich (23) im Regen auf dem Col de la Croix de Chaubouret in 1.200 m Höhe sein Rad gegen eine Zeitfahrmaschine tauschte, war das Rennen eigentlich bereits entschieden. 1.44 min betrug da sein Vorspung auf Marco Pantani, den Kletterspezialisten. Virenque lag als 5. bereits 2.06 min zurück.

Der Tritt des Deutschen war auch gestern wieder bemerkenswert. Er regt die Betrachter in diesen Tagen zu fast erotischen Gefühlen an. Selbst die der Phantasterei völlig unverdächtige Schweizer Weltwoche schwärmt von einer „unverschämten Leichtigkeit“. Warum Ullrich so leicht fährt, darüber wird allenthalben gerätselt. Er selbst nimmt die Komplimente hin, wie so vieles in diesen Tagen. „Wenn ich so locker wäre, wie es aussieht“, sagte er, „hätte ich ja noch schneller fahren können.“

Bei Richard Virenque (27) sah es nach dem aus, was es ist: fast unanständig harte Arbeit. Dabei ist zwar nicht das Zeitfahren, aber der Berg sein Spezialgebiet. Dreimal trug er das gepunktete Bergtrikot nach Paris, wo er im Vorjahr hinter Riis und Ullrich als Dritter ankam. Virenque mag sich natürlich noch nicht ganz geschlagen geben. „Zugegeben“, sagte er, „Ullrich hat im Zeitfahren einen Vorteil, aber ich werde in den Alpen alles versuchen, ihm die Zeit wieder wegzunehmen.“ Wenn er es noch schaffen will, sollten er und das Festina- Team sich sputen und am besten schon heute angreifen. Da geht es in eine Gegend in der Ullrich noch nie war; 21 Spitzkehren hinauf nach Alpe d'Huez. Alles, auf was Virenque noch hoffen kann, ist ein Moment der Schwäche bei Ullrich.

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