: Ein Stückchen enger zusammengerückt
Im Salon von Familie Kokhanenko aus Berlin bleiben jüdische Zuwanderer neuerdings unter sich. Weil „Focus“ sie in einem Artikel über die Mafia abgebildet hat, verklagen die Russen das Magazin ■ Von Constanze von Bullion
Nett sieht er aus. Ein gutgelaunter junger Mann, der plötzlich mitten im Laden steht. Zwischen altrosa Fönhauben und blitzblanken Waschbecken, zwischen den Damen auf ihren Sesseln und den Kunstwerken auf ihren Köpfen. Im Friseursalon „Ko-ko“ webt man an skurrilen Haarblumen, stärkt frischgezupfte Bubiköpfe mit Wolken von Spray. Der junge Mann bewundert. Nickt. Dann drückt er ab. Daß der Fotograf von Focus kommt, ist Anna und Jaroslaw Kokhanenko aus Berlin bekannt. Was aber Focus ist, wissen die Rußlandjuden erst, seit sie das Blatt verklagt haben.
„Gekaufte Urkunden“ heißt der Artikel, in dem die Zuwanderer sich im Februar 1997 wiederfinden. Vom „Dauerproblem“ der „Paßjuden“ berichtet da Focus- Autor Wilhelm Dietl. Von jüdischen Kontingentflüchtlingen aus den GUS-Ländern, die angeblich den deutschen Sozialstaat mißbrauchen. Nur 40 Prozent, wird Exdiplomat Alexander Arnot zitiert, könnten „formal als Juden angesehen werden“. Die anderen, heißt es, seien „nichtjüdische Trittbrettfahrer“, die vom „massenhaften Betrug mit gefälschten Abstammungsdokumenten“ und von dunklen Geschäften der „Russenmafia“ profitierten.
Juden, Schieber, Spekulanten: Drei Magazinseiten füllt die Story. Ein kleines Problem freilich stellt sich den Redakteuren. Weil für den Krimi kein Täter aufzutreiben ist, fehlen authentische Fotos. Da muß Familie Kokhanenko herhalten. Gleich unter den Absatz über die Mafia hat man das Bild plaziert, das Jürgen Blume geschossen hat. Ein ganz normaler Kunstgriff offenbar, bei dem die Geschädigten sonst stillhalten.
Jaroslaw Kokhanenko hat nicht stillgehalten. Auch wenn er keine große Lust hatte, gegen Focus- Chefredakteur Helmut Markwort in den Ring zu steigen. „Ich bin müde geworden, mich zu rechtfertigen“, sagt der schmächtige Herr und springt auf, als das Telefon klingelt. Kunden sind kostbar im Salon „Ko-ko“. Dabei ist in dem winzigen Lädchen einiges geboten. „Kosmetik, Maniküre, Pediküre, Solar“, steht draußen. Drinnen riecht es nach Seife und Kaffee, die letzte Kundin läßt sich fürs Wochenende herausputzen.
Es ist Anna Kokhanenko, die hier das Geld verdient. Während ihr Mann Jaroslaw den Gästen nachschenkt. Die machen es sich bei einem Kaffee gemütlich. Man blättert in Zeitungen mit kyrillischer Schrift, plaudert auf russisch über die Pläne in Berlin, bestellt italienische Pizza vom Syrer nebenan. Auch Deutsche saßen hier früher. Doch die sind verschwunden neuerdings. Geblieben sind Freunde: Juden die meisten, Kontingentflüchtlinge alle.
Kurz nach der Wende sind sie nach Berlin gekommen. Jedes Bundesland nimmt seit 1991 bestimmte „Kontingente“ jüdischer Familien aus GUS-Ländern auf. Sie dürfen hier arbeiten, auch wenn das politischen Scharfmachern nicht gefällt. Die wissen, daß die Wiedergutmachung keineswegs nur für gläubige Juden gilt. Gebohrt wird trotzdem, denn die Zuzügler stecken in der Zwickmühle. Jüdisch zu sein legitimiert ihre Einwanderung. Jüdisch zu sein ist aber auch das, was sie immer versteckt haben. Jaroslaw Kokhanenko hat seinen Namen schon als Schüler geändert. Kogan- Kokhanenko, das klang nicht nach Zukunft in einem Staat, der die Leute mit dem „J“ im Paß aus etlichen Berufen ausschloß. „Ich wollte Volkswirt werden, da hätte ich als bekennender Jude keinen Studienplatz bekommen“, erzählt der Sohn einer Bibliothekarin und eines Hochschullehrers für Physik.
Wie in vielen jüdischen Familien der Sowjetunion sorgte man tunlichst dafür, nicht mit Thora und Talmud identifiziert zu werden. In der UdSSR galten Juden ohnehin nur als „Nation“. Daß bis heute nur wenige gläubig sind, scheint Focus zu bekümmern. Von „leeren Synagogen“ liest man da. Von Juden, die „am religiös-kulturellen Leben uninteressiert“ sind. Und ein paar Zeilen weiter heißt die Sache dann: „Betrug“.
Sind „falsche“ Juden die ohne Glauben, die „echten“ dagegen stets ins Gebet vertieft? Mit solchen Klischees hat die Biographie von Jaroslaw Kokhanenko nichts zu tun. „Meine Eltern unterschied die Art zu denken“, erklärt er, „die Lebensweise.“ Da gab es einen Vater, der nicht trank. Da lebten oft zehn Personen zwischen 3.500 Büchern. Und da aß man Kartoffeln mit der Heringspaste, die auf jiddisch Vorschmak heißt. „Essen“, sagt Kokhanenko achselzuckend, „hatte immer einen niedrigeren Stellenwert als Lesen.“
Studiert hat er in Moskau, hat sich auf Baustellen zum Planungsleiter hochgearbeitet. Der Job war in Ordnung, die Bezahlung nicht. 105 Rubel gab's im Büro, zehn fürs Kellnern am Abend, dazu ein Taschengeld fürs Modellsitzen in der Nacht. Bei einem Frisierwettbewerb hat Anna ihn dann entdeckt. Mit der „Meisterin höherer Qualifikation“ beschloß Kokhanenko 1991, Rußland zu verlassen – per Touristenvisum.
Keine Frage: Nicht jeder Emigrant reist legal aus. Es ist nicht schwer, einen Paß zu kaufen in Moskau. Auch ein jüdischer Stammbaum läßt sich basteln für ein paar hundert Dollar. Solche Praktiken sind unerfreulich – vor allem für jüdische Gemeinden. „Daß sich andere in die Kontingente einkaufen“, weiß Ernst-Michael Kanow von der Berliner Beratungsstelle für jüdische Zuwanderer, „empfindet unser Klientel als großes Ärgernis.“
Geärgert haben sich die Kokhanenkos nicht gleich. Staunend stand Jaroslaw erst mal vor den Berliner Baustellen. „Wie die ihre Plastiplanen ausgebreitet und nach der Arbeit den Müll weggekehrt haben“, sagt er, „das war wie im Märchen.“ Die Ernüchterung kam bald. „Phantastisch“, hieß es, als Anna zur Probe in etlichen Berliner Friseursalons antrat. „Aber 25 Jahre Berufserfahrung können wir nicht bezahlen.“ Ernüchterung auch für Jaroslaw: Sein Studium zählt nicht mehr.
Ob Lehrer, Jurist oder Krankenschwester: Wer in den GUS- Ländern gelernt hat, kann sein Diplom hier meist vergessen. Daß viele Hochschulabschlüsse ungülig sind, trifft Juden aus der Sowjetunion hart. 70 Prozent der Einwanderer sind Akademiker, hier gelten sie als unqualifiziert.
Da stößt es vielen sauer auf, zum Sozialamt zu pilgern. Die Ärzte und Ingenieure im Salon „Ko-ko“ wollen kein Almosen. Doch der Einstieg ins Berufsleben ist schwierig – nicht zuletzt wegen der Sprache. Auch Kokhanenko läßt übersetzen, wenn er in die jüdische Gemeinde um die Ecke geht. Bis er sich da zu Hause fühlt, werden noch Jahre vergehen.
Denn war die Familie früher „zu jüdisch“, ist sie es heute nicht genug. Nur eine jüdische Mutter legitimiert die Aufnahme in eine deutsche Gemeinde. So will es die Halacha, das Religionsgesetz. Weil Jaroslaw Kokhanenko also Jude ist, Anna aber nicht, gehören ihre Kinder nicht dazu. Und kümmern sich wenig um Gemeindepolitik. „Deutsche sind eben gut im Konkreten“, sagt Kochanenko, „wir unterhalten uns lieber.“
Man hilft sich selbst, Salon „Ko-ko“ ist zur Jobbörse geworden. Hier tauschen die Gäste Hilfsdienste wie ausgelesene Bücher. Ein Haarschnitt zu Bar-Mizwa gegen Tips für die Bewerbung. Nachhilfe in Mathe gegen eine Renovierung. Wo das nötige Kleingeld herkommt, verraten Visitenkarten auf dem Sims: Daniel Schauck verkauft Autos, Ilja Meiler bläst Ohren durch, Dr. Satanowsyky ist Unfallgutachter geworden.
Auf eigene Beine gestellt haben sich auch die Kokhanenkos. Einen Kredit, einen Mietvertrag, einen Salon haben sie sich beschafft. Die Existenzgründung ist in einem dicken Fotoalbum auf dem Tisch dokumentiert. Bilder von Mauerdurchbrüchen und frischgestrichenen Wänden. Eine Seite weiter dann die Eröffnung mit den ersten Kunden. Und wer noch mal umblättert, weiß Bescheid. Ordentlich abgeheftet liegt da der Artikel von Focus.
Gekaufte Pässe, Trittbrettfahrer, Mafia. „Der Fotograf hat erzählt, es soll um jüdische Geschäftsleute in Berlin gehen“, erinnert sich Jaroslaw Kokhanenko. Mit wem sie zu tun hatten, begriffen die Zuwanderer zu spät. „Plötzlich waren alle unsere deutschen Kunden weg“, erzählen sie. „Zwei Geschäftsleute aus dem Nachbarhaus kamen alle drei Wochen. Die sind verschwunden wie die anderen.“ Mindestens 13 deutsche Stammkunden kann der Chef vom Salon „Ko-ko“ benennen, die verlorengingen seither.
Daß der Wind kälter bläst im neuen Deutschland, hat viele Gründe. Focus ist einer davon. Ob das Blatt durchkommt diesmal, ist allerdings noch die Frage. Zu Zahlungen in Millionenhöhe wurde das Magazin kürzlich verurteilt, weil es eine Bank ruinierte. Den Kopf eingezogen haben auch die Rußlandjuden nicht. „Da wird mit unseröser Berichterstattung eine Existenz zerstört“, sagt ihr Rechtsanwalt Christian Donle. Anfang Juni hat er eine Klage beim Landgericht Berlin eingereicht. Donle fordert Schadenersatz wegen Persönlichkeitsverletzung und Geschäftsschädigung.
Alles Peanuts für Helmut Markwort? Familie Kokhanenko müsse „erst mal nachweisen, daß ihr durch den Artikel ein Schaden entstanden ist“, erklärt Focus-Anwalt Klaus Rehbock. Zwischen dem Text über die Betrüger und der Abbildung darunter will er keinen Zusammenhang sehen. „Das Foto war als Gegenbeispiel zum Lauftext gemeint“, meint der Jurist, der lediglich „ein Problem im Zusammenspiel zwischen Bild- und Textredaktion“ erkennt.
Die Probleme könnten sich häufen. Auch der Kronzeuge der Focus-Story ist sauer. Alexander Arnot, bis 1996 deutscher Botschafter in Kiew, beschwert sich über „Mißbrauch und parasitäre Publizität eines Mannes, der nicht fortkommt“. Er meint den Fürther Landtagsabgeordneten Günter Gabsteiger (CSU). Ihm hatte Arnot 1995 von ukrainischen Auswanderern geschrieben. Der Franke schickte den Brief prompt an Focus weiter. So schafft man Fakten.
Die Stimmungsmache aus den hinteren Bänken der Union hat nichts gebracht, die Kontingentregelung bleibt. Ein Stückchen enger zusammengerückt sind die Emigranten allerdings im Salon „Ko-ko“, seit der Mann mit der Kamera da war.
Was hilft gegen das Heimweh? „Ein Bier und Stockfisch dazu. Ein nettes Gespräch vielleicht oder ein schönes Lied zur Gitarre.“ Irgendwas für die ramponierte Seele eben. Egal, ob die jüdisch ist oder russisch.
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