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Paris huldigt dem Tourminator

Jan Ullrich läßt sich auf den Champs-Elysées als großer Sieger der 84. Tour de France feiern, und auch Frankreichs Radsportfans jubeln ihm zu  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Es war ein Kräftemessen im europäischen Zeitgeist. Ein deutsch- französischer Zweikampf, gespickt mit Unwägbarkeiten und Überraschungen. Eine Tour de France, die am 5. Juli in Rouen begann und gestern auf den Champs-Élysées, wo die Franzosen traditionell ihre Triumphe feiern, mit dem Sieg des 23jährigen Jan Ullrich vor dem Franzosen Richard Virenque und dem Italiener Marco Pantani endete. Die letzte Etappe entschied im Spurt der Italiener Nicola Minali für sich.

Seit Tagen hatte sich Frankreich auf den ersten Sieg eines Deutschen bei der Tour de France eingestellt, schließlich trug Jan Ullrich schon seit dem 15. Juli das gelbe Trikot des Spitzenreiters. Sogar schon vor Beginn der 3.950 Kilometer langen Rundfahrt hatten die Medien den gebürtigen Rostocker – „blond, helläugig, Ex-DDR, Ring im Ohr“ – als möglichen Sieger vorgestellt und neben Fotos, die seinen nackten Oberkörper zeigten, vor allem die erstaunlichen Kräfte und Körpermaße des „neuen Giganten“ beschrieben. Das Herz der Franzosen schlug jedoch für ihren Landsmann Virenque, dessen Schlagfertigkeit und jungenhaftes Lächeln sie begeistert. Ihn beschrieben sie als witzig, den Deutschen als stark. „Der Champion und der Liebling“ titelte gestern die Zeitung Journal de Dimanche.

Am Samstag hatte Liebling Virenque seinen vorerst letzten Zweikampf gegen Ullrich, den Champion, gewagt. Das war in der europäischen Hauptstadt der amerikanischen Disney-Mäuse im Osten von Paris, wo sich die verbliebenen Tour-Teilnehmer auf 63 Kilometern ein Rennen gegen die Uhr lieferten. Tausende von Schaulustigen säumten die Strecke, an deren Anfang und Ende eine gigantische gasgefüllte Mickymaus im Wind schwankte. Viele hatten Fahnen mitgebracht. Die meisten waren klein und dänisch, wie die Nationalität des Vorjahressiegers. Es gab auch deutsche, zwar seltener, dafür aber viel größer. Die Trikolore war kaum zu sehen.

Virenque stieg um 16.05 Uhr als Vorletzter in die Pedale. Drei Minuten später raste Ullrich los. Am Ende gewann keiner der beiden die Etappe, und Bjarne Riis wurde mit einem Ausrutscher zu Füßen von Minnie Mouse, mehreren Pannen und 9:12 Minuten Verspätung hinter dem spanischen Sieger Abraham Olano vollends zur tragischen Figur. Wofür seine zahlreich aus Dänemark angereisten Fans „Probleme mit dem Magen“ als verständnisvolle Erklärung parat hielten. Ullrich blieb 45 Sekunden hinter Olano, Virenque konnte sich immerhin freuen, daß der Deutsche ihn dieses Mal nicht überholt hatte. Dann lobte er seine eigenen „permanenten Fortschritte“ und hoffte auf eine „harte Tour-Strecke für 1998“.

Doch bei der Tour gewinnen nicht nur die drei Männer, die am Ende auf dem Siegerpodest stehen. Da sind auch die Städte und Landschaften, die für ein paar Stunden im Jahr und oft gegen millionenschwere Bezahlung weltweit auf den Bildschirmen erscheinen. Da sind die Etappensieger, die Helden eines Tages. Die Etappen- schwächsten, die häufig Trostpreise von Bürgerinitiativen am Rand der Rennstrecke bekommen. Da sind die Herkunftsländer, die oft in kollektive Fahrradbegeisterung verfallen. Und dann sind da die Firmen, unter deren Logos die Radfahrer sich abquälen.

Das rosarote „T“ hat Ullrich zu dem französischen Nebentitel des Mannes mit der „Telefon-Aura“ verholfen. Sein Team – „in dem nur Deutsch gesprochen wird“ – beschreiben die französischen Journalisten ehrfurchtsvoll. Manche, die der Privatisierung der eigenen Telefongesellschaft skeptisch gegenüberstehen, nutzten Ullrichs Siegeszug für detaillierte Analysen der Kapitalverflechtungen im deutschen Telefonsektor, die auch stets ausführlich auf die US-amerikanischen Einflüsse hinweisen.

„Das deutsche Wochenende“ hatte die Sportzeitung L'Équipe die letzten Entscheidungstage dieser Tour genannt. Andere französische Medien kündigten die „Ära Ullrich“ an und wollten in dem jungen Mann den „Tour-Sieger des Jahres 2.000“ erkennen. Wieder andere schreiben über den Boris- Becker-ähnlichen Ruhm sowie den Millionen-D-Mark-Segen, der über Ullrich niedergehen würde, und rätseln darüber, ob er das psychisch verkraften könne. Der Ton bleibt sportlich. Kein kritisches Wort über „die Deutschen“ wird in Frankreich, das seit 13 Jahren keinen Tour-Sieger mehr hatte, laut. Wie üblich gibt es historische Vergleiche. Da die Parallelen im deutsch-französischen Radsport fehlen, wird der „junge Cohn-Bendit im Frühling 1968“ hervorgekramt. „Bravo Ullrich“ stand gestern auf der ganzseitigen Anzeige eines Parfumherstellers. Die Franzosen haben einen 23jährigen mit Vergangenheit – in der DDR – und mit Zukunft – auf dem Rad – entdeckt und akzeptiert. Auch für sie ist Jan Ullrich, den sie wie einst Miguel Induráin den „Tourminator“ nennen, der absolute Star dieser Frankreich-Rundfahrt. Trotz Liebling Virenque.

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