: Die Bösen wohnen im Grunewald
■ Und die nette Kioskverkäuferin berlinert wie nix Gutes: „Leonhard und der Lakomatritzenmeister“, ein Kinderbuch des Theaterregisseurs Tilman Gersch
Mir persönlich war der Saft der Süßholzwurzel, allgemein auch Lakritze geheißen, schon immer ein Greuel. Um genau zu sein: Ich fand den Geruch so abstoßend, daß ich noch nie in meinem Leben Lakritze gegessen habe. Irgendwie ist das ja auch eine Obsession, während ich umgeben bin von Menschen (und nicht nur Kindern), die begeistert das Zeug schlecken, das nicht nur wie Hustensaft schmeckt, sondern auch in vielen solchen Arzneien verwendet wird. Ist die Lakritze richtig, d.h. nicht wie dieser wabbelige Haribo-Kram, sondern hart und schwarz und eher zum Lutschen, dann glänzt sie wie der Tod. Wahrscheinlich die einzige Süßigkeit, die schon so aussieht wie das Verderben, das ihr innewohnt.
Auch in „Leonhard und der Lakomatritzenmeister“ droht mehr als nur Karies. Das zweite Buch des Berliner Theaterregisseurs Tilman Gersch ist wie sein erstes, „Christopher das Pulveräffchen“, ein Kinderbuch. Allerdings hat der Autor nicht viel im Sinn mit der linksliberalen Tradition des Genres, mit den Nöstlingers und Lindgrens und wie sie alle heißen mögen. Eher schon orientiert sich die Geschichte um den Lakritze liebenden Leonhard an den Schauergeschichten, die die Brüder Grimm der Nachwelt erhalten haben, oder an den kalt schillernden Gruselmärchen von Andersen.
Das Böse tritt in das Leben des Straßengörs Leonhard in Form des Meisters, eines Dealers, dessen Lakomatritze jedermann sofort abhängig macht. Mit Leonhard soll nun ein letztes Experiment stattfinden: Er wird entführt und sein Blut in einer grauselig beschriebenen Operation durch Lakomatritze ersetzt. Der Junge mutiert zu einem kleinen, schwarzen, schleimigen Etwas, das nur mehr von Lakomatritze leben kann. Er ist der Prototyp des neuen Menschen, den der Meister erschaffen soll im Auftrag der „Herrinnen und Herren vom Schwarzen Blut“, einer Geheimorganisation, die systematisch die Gesellschaft unterwandert. Doch Leonhard kann den Lako- Scientologen entkommen, dabei helfen dem schwarzen Männchen diverse Stadtstreicher, der Gelegenheits-Junkie Clarissa und die kleine Klarissa, ein phantasievolles, mutiges Mädchen mit Hund. Ob es gut ausgeht, er seine ursprüngliche Gestalt zurückerlangt, ob ihm hinterher noch Lakritze schmeckt?
Angesiedelt hat Gersch seine Geschichte eindeutig im Hier und Jetzt, im Berlin der Nachmauerzeit. Mit der S-Bahn jagt er uns kreuz und quer durch die Stadt, daß man sich manchmal wie ein Tourist auf Stadtrundfahrt fühlt: vom Wasserturm im Prenzlauer Berg durch den Tiergarten zum Sowjetischen Ehrenmal, von der Gethsemanekirche nach Charlottenburg und zu den schicken Villen im Grunewald, wo die Bösewichter residieren. Aber ebendieses Berlin erinnert bei Gersch verteufelt an die zwanziger Jahre. Leonhards Vater ist arbeitslos, der bankrotte Vater von Klarissa wird von einem Schuldeneintreiber im rosa Hasenkostüm in der Öffentlichkeit bloßgestellt, und vernachlässigte Kinder treiben sich in Hinterhöfen herum, anstatt durchs Internet zu surfen und Tamagotchis zu füttern. Der Kiez funktioniert noch, und die nette Kioskverkäuferin berlinert wie nix Gutes.
Auf der anderen Seite feiern die Lakomatritzen-Abhängigen rauschende Kostümbälle in abrißreifen Fabrikgebäuden im Osten, wo noch Hammer und Zirkel an der Wand prangen. Es ist ein morbider letzter Tanz auf dem Vulkan, bevor die bösen Mächte endgültig die Kontrolle übernehmen.
Verstärkt wird der antiquierte Eindruck noch durch die Illustrationen von Bert Neumann, Bühnenbildner an der Volksbühne, der mit wenigen, manchmal unsicher wirkenden Strichen ein Grau-in- grau-Bild der Stadt entwirft. Andererseits ist „Leonhard und der Lakomatritzenmeister“ mit seinen ständig wechselnden Schauplätzen schnell wie heutiges TV, und Gersch macht sich leider nicht die Mühe, seine Charaktere groß zu entwickeln. Bevor man richtig zum Durchatmen kommt, ist die Lakritze weggelutscht und der Grusel schon wieder vorbei. Thomas Winkler
Tilman Gersch: „Leonhard und der Lakomatritzenmeister“, mit Illustrationen von Bert Neumann, 218 S., Fischer Schatzinsel
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