Schriften zu Zeitschriften: Letzte Wässerung
■ No fun: Die Zeitschrift „Testcard“ analysiert „Retrophänomene“
Habt ihr da draußen, Leute, eigentlich bemerkt, daß im Felde des Pop auch schon wieder ein Kulturkampf tobt? Eine „fatale Variabilität zugunsten allgegenwärtiger Entpolitisierung“ diagnostiziert die Zeitschrift Testcard, Untertitel: „Beiträge zur Popgeschichte“, in ihrer jüngsten, musikalischen „Retrophänomenen“ gewidmeten Ausgabe. Alerte Szenehedonisten, so der Vorwurf, hätten die von Revivals und Recycling geprägte Epoche der Neunziger nur verschieden genossen, jetzt käme es darauf an, einmal wieder saubere Rekonstruktionsarbeit zu leisten. Das heißt: Pop eher zu sezieren als aufzuessen, sich aber auf keinen Fall „einer mit Plattenfirmen kooperierenden Hipness [zu] verschreiben“.
Wer nur im geringsten Bescheid weiß um die latente Paranoia, die das Kommunikationssystem Pop aufgrund des beständigen Zeitgeschehensüberdrucks in Schüben heimsucht, entziffert solche Passagen mühelos als Angriff auf Spex, Untertitel: „Das Magazin für Popkultur“, das von den tonangebenden Testcard- Autoren immer noch mit allen Insignien eines glamourösen Großen Bruders ausstaffiert wird. Fällige Aufbauarbeit, schreibt etwa Günther Jacob in schönster PEN-Club-Manier, sei „durch die jahrelange Wortführerschaft der auf Distinktionsstrategien abonnierten Subkulturideologen bisher behindert“ worden, „Dekonstruktion“ dieses Popanz Voraussetzung „jeder [!] Pop-Kritik“.
Wer noch nicht völlig betriebsblind ist, darf sich hingegen wundern über die Bandagen, mit denen hier in den Kampf um Minimengen kulturellen Kapitals gegangen wird – früher hieß so was „Lagermentalität“. Schließlich: Schreitet die Historisierung des Pop nicht an allen Fronten tapfer voran? Ist Glamour nicht ohnehin Mangelware geworden? Und war nicht sogar in der Zeit mehrfach zu lesen, daß es mit der Spaßgesellschaft nicht so weitergehen kann?
Testcard indes geht es um mehr, nämlich: „aus einer defensiven Haltung gegenüber (musikalischen) Moden herauszutreten und eine offensive, fordernde Stellung zur Musik zurückzugewinnen“. Roger Behrens verfolgt zu diesem Zweck die Spur des Progressivrocks, des letzten Fortschrittsversprechens vor der „Postmoderne“, bis weit in die Geschichte zurück. Sind Progrocker der Siebziger wie Yes, Nice, ELP nicht immer zugleich Bearbeiter von Historischem (Strawinsky, Mussorgski etc.)? War nicht, streng genommen, das 19. Jahrhundert (Mahler!) bereits eine Coverversion historischer Musikstile – somit „retro“? Behrens kommt zu dem Ergebnis, daß unterm Diktat der Mode Fort- und Rückschritt in Reinkultur nicht mehr zu kriegen sind, und plädiert adornitisch für einen Rekurs auf den „Materialbegriff“. Rigobert Dittmann setzt noch eins drauf und schlägt vor, „Retro“ vor dem Hintergrund des Widerstreits zwischen Klassizismus und Manierismus (etwa 1520 bis 1650) zu begreifen.
In erleuchteten Momenten gelingt es der Testcard-Mannschaft, den faktisch unhaltbar gewordenen Fortschrittsbegriff derart tief in die Aporie zu reiten, daß analytischer Ernst ins Absurde umschlägt und nietzscheanisches Gelächter sich breitmacht. „Ist ,Praxis Dr. Hasenbein‘ – der letzte Helge-Schneider-Film – ein progressives Retrostatement?“ Oder nicht eher ein letztes Aufflackern humanoider Versehrtheit? Das fragt ein gewisser Thomas Anders in verstreuten Anmerkungen zu Ornette Coleman, Klon-Schaf Dolly und den Goldenen Zitronen – einem begnadeten Versuch in Stand-up-Philosophieren und Sitcom-Reflexion, der die falschen Fragen richtig nicht beantwortet, gegenüber den größeren Erzählungen in Testcard aber doch Episode bleibt.
Für die erklären sich rahmengebend zuständig: Martin Büsser mit einem analytischen Plädoyer gegen slicke Schreiber und kleine Fluchten („Disco entbindet über Präsenz von sämtlicher Verantwortung und muß erst gar nicht Retro werden, um als Flucht aus der Geschichte zu funktionieren“) sowie – tataaaa! – Grandmaster Jacob, der auf 10 Seiten in 20 Sachverhalten etwa 30mal das Marxsche Wertgesetz entdeckt, Conclusio: „Der Kampf um Bedeutung und der damit einhergehende Wandel der Symbolsysteme entsteht innerhalb dieser Gesellschaft.“
Da solcherlei Grundsätzlichkeiten, gegen Pop gewendet, nicht unter dem Aufwandsniveau von Habil-Schriften letztinstanzlich zu bestätigen oder zu widerlegen sind, bleibt in unserem Kastenrahmen hier nur die kursorische Wendung der Prätention gegen sie selbst. Wenn Martin Büsser etwa sein Bedauern formuliert, im Umkreis von Beefheart, Zappa und Fred Frith heute nur mehr auf Epigonen zu stoßen, die das avantgardistisch bestellte Feld „mit dünnem Strahl bewässern“ – läßt das nicht den Umkehrschluß zu, er, Büsser, würde ebenjenes Terrain gern weiträumig und vor allem: dickstrahlig bestrunzen? Und wenn Jacob allenthalben „Wortführerschaften“ am Werk sieht – was kann das nach Adam Riese, Alf und Adamo anderes bedeuten, als daß er sie selber gerne hätte: die Pole Position im Kampf um die (einzig) wahre Interpretation (und dann Gnade Gott allen „Revisionisten“)?
Die Tatsache, daß Testcard es geschafft hat, bei rund 25 Autoren keine einzige Frau dabeizuhaben, nimmt dem Rüchlein von Pißmarke und Reviermeierei – bei allen Verdiensten im einzelnen – auch nicht gerade die Schärfe. Mag ja sein, daß die „Revolution“, wie Büsser schreibt, in diesen unseren Tagen „des Schreibens über Pop stärker bedarf denn je“ – beim großen Aufwasch, wenn's an die Diskurskrägen geht, will man lieber nicht zugegen sein. Thomas Groß
„Testcard. Beiträge zur Popgeschichte“. Nr. 4: „Retrophänomene in den 90ern“. 315 Seiten, 28DM
Zu beziehen über: Verlag Jens Neumann, Nerotalstraße 38, 55124 Mainz, oder im besseren Buchhandel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen