piwik no script img

Schizophrenie der Kunst? Ja. Amen.

Er war Psychiater, drogensüchtig und litt unter Halluzinationen. Er war verheiratet und schwul. Rechtzeitig zum 70. Geburtstag liegen seine Werke in zehn Bänden vor. Ein Porträt des Schweizer Schriftstellers Walter Vogt  ■ Von Detlef Grumbach

„Haben Sie ihn denn persönlich gekannt?“ Skeptisch betrachtet mich die alte Dame auf dem Friedhof in Muri bei Bern. Ich habe Sie nach dem Grab von Walter Vogt gefragt. „Nein, das nicht“, antworte ich, und schon öffnet sich ihr Blick ein wenig. „Er war ja ein bißchen ..., er hat ja Drogen genommen.“ Sie schaut auf die Blumen, die sie gerade gegossen hat, scheint zu überlegen, ob sie weiterreden soll. „Aber darüber hat er ja auch geschrieben“, zieht sie sich aus der Affäre. „Das Grab ist da drüben. Sie können es gar nicht verfehlen. Es ist ein Gemüsebeet mit Totenköpfen.“

„Wer schreibt, ist verrückt“, stellt der Arzt und Schriftsteller Walter Vogt in seinem Essay „Die Schizophrenie der Kunst“ (1969) lapidar fest. Er nennt Autoren von Samuel Beckett bis Tennessee Williams und fügt kokett hinzu: „Und wenn ich von mir selbst sprechen darf: Ich bin auch verrückt.“

Ver-rückt im wörtlichen Sinn sind die unterschiedlichen Welten, zwischen denen Vogt lavierte, die ihm ein Entweder-Oder abverlangten und in denen er niemals heimisch werden konnte. Das gilt allgemein für die schweizerische bürgerliche Gesellschaft, an die er sich anpassen mußte – und die ihn zum Außenseiter stempelte. Das gilt für die hierarchischen Strukturen des Militärs – Vogt war Stabsarzt im Hauptmannsrang – und in der Klinik, wo er in der Psychiatrie, der Pathologie und schließlich als leitender Röntgenarzt arbeitete. Das gilt auch für die Verhältnisse der Geschlechter, in denen Vogt seinen eindeutigen Platz nicht finden konnte. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder, wurde aber zunehmend von homosexuellen Wünschen bedrängt. Er mußte verrückt werden. Oder krank. Oder Schriftsteller.

Geboren wurde Walter Vogt am 31. Juli 1927 in Bern. Er wurde nur 61 Jahre alt und starb 1988. Er war Präsident der Schriftstellervereinigung „Gruppe Olten“ und Vorstandsmitglied des schweizerischen PEN, Mitglied der Organisation „Ärzte gegen den Atomkrieg“ und der Aids-Hilfe. Sein Werk umfaßt an Friedrich Dürrenmatt erinnernde Gesellschaftssatiren, Erzählungen und Theaterstücke, Gedichte, Aphorismen und Essays vor allem aber die außerordentlichen Tagebuchromane „Vergessen und Erinnern“, „Altern“ und „Schock und Alltag“. Außerdem betätigte Vogt sich als Laienprediger und Autor für Rundfunk und Fernsehen.

Sich mit Worten auf die Suche nach dem verlorenen Ich begeben, mit den Mitteln der Sprache, nahe dem Wahn, an das Unsagbare rühren – das war sein Verständnis von Dichtung. „Der Gipfel der normalen Geistesverwirrung ist die Einführung der Diagnose Schizo-Phrenie für den einzelnen auf dem Weg zu sich selbst“, notierte er in dem oben zitierten Essay: „Gibt es also so etwas wie Schizophrenie der Kunst? Es gibt nichts anderes. Amen!“

Da hat er also wieder einmal gepredigt. Dieses spitzbübische Amen als ironische Distanzierung ist charakteristisch für den Stil Walter Vogts. Im Verlag Nagel und Kimche ist in den letzten Jahren eine zehnbändige Ausgabe seiner Werke erschienen. Abgeschlossen wurde sie nun mit der Neuausgabe des stark autobiographischen Tagebuchromans „Altern“, der erstmals 1981 publiziert und jetzt um ein damals gestrichenes Kapitel ergänzt wurde. Gerade die Tagebuchromane lassen erahnen, was Vogt mit der Formulierung „der Einzelne auf dem Weg zu sich selbst“ meint. Rigoros und kompromißlos, obszön und ironisch, mit entsetztem Blick und gelöster Heiterkeit macht der Autor sich selbst zu seiner Figur.

Entstanden sind die Tagebuchaufzeichnungen, die dem Roman „Altern“ zugrunde liegen, 1978 und 1979 in seinem Refugium am Murtensee. Vogt erzählt alltägliche Dinge, notiert kleine Erlebnisse und Selbstreflexionen. Aus der Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt entfaltet er die ganze Problematik seines Lebens, wandert zurück in die vierziger und fünfziger Jahre, erzählt von seiner Pubertät, seinem persönlichen und beruflichen Werdegang, berichtet von seinem Kampf gegen äußere und verinnerlichte Normen. Schließlich setzt er sein eigenes „Altern“ in Beziehung zur Natur.

Zu Beginn befremdet er die Leser, indem er sich seiner unmittelbaren Umgebung vergewissert, alles ausmißt, beschreibt, festhält: „Ich sitze an einem Tisch. Der Tisch ist aus Holz, mit einem gelblichen Blatt, 60 mal 80, 74 cm hoch....“ Ist das Ironie auf die nüchterne und allmächtige Haltung des Wissenschaftlers oder Arztes, dem alles zum Objekt wird, der die Natur durch Messen und Bestimmen in den Griff bekommen und beherrschen will? Oder die Suche nach Halt, bevor er sich auf den Treibsand der Erinnerung wagt?

Schon früh leidet Vogt unter zahlreichen Krankheiten, die sich bald zu einer „wilden, ungesteuerten, wahnsinnigen Sexualität“ auswachsen, zu einem tiefen Erschrecken vor der eigenen Existenz, zu einem „grauenhaften, überwachen, schlaflosen, vollkommen verzweifelten Zustand, der eigentlich nicht zu überleben war“ und sich in einem Schub von Halluzinationen auflöst. Wie mit dem Röntgenblick betrachtet er sich und spricht von seinen körperlichen und seelischen Nöten. Er erlaubt sich keine Larmoyanz. Kein oberflächlicher Witz überspielt die Situation, sondern dieses merkwürdig nachklingende „eigentlich“. Immer wieder erstaunt über sich selbst, seine „ironische Lebensweise“, entwickelt er seine spröde, an die banalen Dingen des Alltags gebundene „Poesie der Verlorenen“.

Im Alter von 34 Jahren erleidet er, ähnlich wie in der Pubertät, einen Zusammenbruch. Danach, im Mai 1961, beginnt er zu schreiben: „Man darf es sich nicht allzu idyllisch vorstellen; Schreiben überfiel mich wie eine Krankheit, ein permanenter und in Schüben verlaufender Fieberzustand. Malaria.“ Das Schreiben wird für ihn zum Ausweg, zur Rettung – und zu einer zusätzlichen Bedrohung. Seine böse-satirischen Geschichten über die Klinik und die Ärzte, „Husten“ (1965) und „Wüthrich“ (1966) lösen einen Skandal aus. Als Krankenhausarzt ist er nicht mehr tragbar, kehrt zur Psychiatrie zurück und baut eine eigene Praxis auf.

Außerdem experimentiert er mit Drogen, um seinen Halluzinationen auf die Spur zu kommen. Diese Form der „Selbsttherapie“ betreibt Vogt, bis er erneut zusammenbricht. In „Vergessen und Erinnern“ verarbeitet er die Erfahrungen des darauf folgenden Entzugs. Das 1980 erschienene Buch beginnt mit der Entlassung aus der Klinik. Der Erzähler berichtet vom reglementierten, entmündigenden Alltag in der Psychiatrie und verfolgt ein Katz-und-Maus-Spiel mit seiner Ärztin: Soll er draußen bleiben, in einer Welt, die ihn überfordert, die ihm Angst macht und seine Freiheit garantiert? Oder soll er in die Klinik zurückkehren, wo er behandelt, kontrolliert und umsorgt wird, wo alles registriert wird und deshalb einen Sinn bekommt? Arzt und Patient, Wahnsinniger und Dichter – die künstlichen Mauern zwischen dem Gesunden und dem Kranken, dem Normalen und dem Abweichenden verlaufen mitten durch ihn selbst. Zu beiden Welten fühlt er sich hingezogen. Beide nehmen ihm die Luft zum Atmen. Ruhelos wird er hin und her getrieben, bis er sich schließlich entscheidet, draußen zu bleiben.

Auf „Vergessen und Erinnern“ folgt der Roman „Altern“. Das ganze Leben rückt nun ins Blickfeld, wird in der Erinnerung festgehalten, im Erzählen geformt, erschaffen und damit auch festgelegt: „Denn was aufgeschrieben ist, gewinnt ein Eigenleben; am Ende glaubt man selbst, daß es so war, wie es geschrieben steht. Erinnern, wie man es aufschreiben kann, heißt immer auch, vergessen, wie es war.“

In „Schock und Alltag“, dem Tagebuchroman aus seinen letzten beiden Lebensjahren, innerhalb der Werkausgabe postum veröffentlicht, schieben sich seine homosexuellen Neigungen in den Vordergrund. Schon während des Entzugs in der Klinik hatte er sich in einen jungen Patienten verliebt und erinnert die Leser in einzelnen Motiven an Thomas Manns „Zauberberg“ und den „Tod in Venedig“. In „Altern“ nimmt seine Freundschaft zu dem jungen C. breiten Raum ein. Vogt zeigt eine geradezu eifersüchtige Gier nach Jugend, nach dem in seinen jugendlichen Freunden verkörperten, befreiten homosexuellen Leben. Junge, erotische Knabenkörper werden zum „Gradmesser des Überlebens“. Zugleich wird Aids zur Metapher für den Tod, sehnt er sich nach einem positiven Testergebnis, spricht vom Suizid „nicht als Bedrohung, eher als Ausweg aus einer ausweglosen Situation, als Lebensmöglichkeit“.

Das Verhältnis zu seiner Frau und seinen Kindern, seine homosexuellen Neigungen, seine Drogenerfahrungen – der Erzähler durchlebt eine ganze Reihe von Metamorphosen und bleibt doch derselbe. In seinem letzten Roman, „Das Fort am Meer“, fügt Walter Vogt seine ganze Lebenserfahrung noch einmal in ein fiktives Bild: Ein Erzähler flieht vor seinem bürgerlichen Leben, seiner Frau, die sich von ihm trennen will, seinen homosexuellen Obsessionen. Er überschreitet eine Grenze, gerät in ein Fort, aus dem es kein Entrinnen gibt – weder für die Wachmannschaft noch für den Besucher. Am Ende steht ein sehr realer, sehr erotischer Tod: Der Erzähler wird gehenkt. Der Henker erscheint ihm als Callboy.

„Weshalb verfiel ich denn, als unbescholtener Röntgenarzt, der ich 1961 war, auf Literatur?“ fragt Vogt in einem Essay aus dem Jahr 1982, der die Antwort im Titel trägt: „Schreiben als Krankheit und als Therapie“. Vogt kannte keine Gewißheit, spürte immer wieder eine tiefe Unruhe und berührt die Leser, wie es Literatur selten tut. Er formuliert das Erschrecken über die eigene Existenz, bannt es nicht, hält es aber aus. Bis in den Wahnsinn, bis in den Tod.

„Haben Sie es gefunden?“ fragt die alte Dame, die mir den Weg gewiesen hat, als ich auf dem Rückweg wieder bei ihr vorbeikomme. Ich habe das Grab Walter Vogts schnell entdeckt: ein ungepflegtes Gemüsebeet. Kein Grabstein. Statt dessen ein Metallgitter, in dem Grün rankt und helle, ausgewaschene Steine hängen. Steine liegen auch zwischen den Pflanzen. Sie erinnern tatsächlich an Totenköpfe. „Es paßt doch zu ihm“, fragt die Dame vorsichtig und scheint jetzt beinahe stolz, das Grab dieses unheimlichen Zeitgenossen in ihrer Nachbarschaft zu haben.

Die Werke von Walter Vogt sind erschienen im Verlag Nagel und Kimche, Zürich

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen