: Wenn richtige Männer zum Auslaufmodell werden
■ „Die Leute, die am meisten Angst vor Kriminalität haben, sind am wenigsten bedroht. Gewalt spielt sich meist in der eigenen Ethnie ab.“ Ein Gespräch mit Joachim Kersten
taz: Männer sind krimineller als Frauen. Warum?
Joachim Kersten: Je schwerer die Kriminalität, um so deutlicher ist die Überrepräsentation männlicher Täter. Männer sind auch öfter Opfer. Die populärkulturellen Bilder, daß Frauen überwiegend Opfer von Männergewalt sind, stimmen nicht. Aus den USA ist bekannt, daß Afroamerikaner zu über 90 Prozent von anderen Afroamerikanern getötet werden, Latinos von anderen Latinos, Weiße von anderen Weißen. Aber auch in Deutschland und in der Schweiz bleibt die schwere Gewalt innerhalb der gleichen Ethnien und Minderheitenkulturen, bedroht insofern die Hauptkultur weniger. Anders ist es beim Straßenraub. Grundsätzlich gilt aber: Die Leute, die am meisten Angst vor Kriminalität haben, sind diejenigen, die in ihrem Leben am wenigsten Gefahr laufen, jemals Opfer zu werden.
Rassistische Straßengewalt und Vergewaltigungen sind sozusagen normale Bestandteile männlicher Selbstfindung, lediglich im Vergleich zur akzeptierten Männlichkeit ein wenig zu extrem betrieben?
Verhältnismäßig arme Männer aus Minderheiten, mit schlechter Bildung, in Städten, ohne feste Bindung in Familie oder Partnerschaft, ohne Aussicht darauf, angestammte Männlichkeitsfunktionen jemals wahrnehmen zu können, nämlich Versorger und Beschützer der Familie und Gemeinschaft und damit erst „richtige Männer“ zu werden, versuchen, in ihrer Kriminalität Männlichkeitsfunktionen zumindest symbolisch zu reklamieren. Wenn man Kriminalität so versteht, sieht man, daß sie eine Darstellung von Geschlecht ist.
Was oft nicht gesehen wird, ist, daß Männer, die ihre Frauen schlagen oder auch andere mißhandeln, das selten aus einer Position der Stärke und gesicherter Vormachtstellung heraus tun, sondern aus Verzweiflung, diese Kontrolle aufrechtzuerhalten. Gewalt ist ein Versuch, einen Selbstwert auszuhandeln.
Wenn es um hegemoniale Orientierungen geht, welche Wirkung hätte dann ein steigender Einfluß von Frauen in allen gesellschaftlich mächtigen Institutionen?
Die Frau steht als Referenzfigur gar nicht im Mittelpunkt dieser Männlichkeit, sondern die anderen Männer, und zwar die, die gleich- oder untergeordnet sind. Und da kommt der Rassismus hinzu: Der Fremde ist gefährlich, er nimmt Arbeit, Wohnung, Frau weg, und er wird zum Projektionsbild der eigenen erlebten Schwäche. Diese Vorurteilsbildung hat eine sehr starke geschlechtsspezifische Komponente. Vorurteile gegen fremde Männer richten sich auf die Männlichkeitsdomänen: Heterosexualität, Beschützen, Versorgen, das heißt Arbeiten. Frauen werden kulturübergreifend im Hinblick auf Hausarbeit („Schlampe“), mangelnde heterosexuelle Attraktivität oder sexuelle Verfügbarkeit („Flittchen“) diskriminiert. Und diese Haßbilder entstehen auch dadurch, daß Gruppierungen der deutschen Randschichten und der zugewanderten Minderheitenrandschichten sich auf dem Wohnungs-, dem Arbeits- und dem Heiratsmarkt reiben. Für die hegemoniale Männlichkeit hat das in gewisser Weise einen angenehmen Nebeneffekt. Man sieht, daß die schlimm sind, aber das findet nicht in ihrer eigenen Hauptkultur statt. Interview: Klaus Farin
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