: „Ich hatte Angst, meinen Glauben zu verlieren“
■ Jürgen Kuczynski im taz-Interview (1995) über sich, den Sozialismus und die DDR
taz: Herr Kuczynski, vor zehn Jahren haben Sie eine fiktive Leichenrede auf sich gehalten und damals bedauert, vom Leben im Sozialismus Abschied nehmen zu müssen...
Jürgen Kuczynski: Ha, völlig falsch war das, es war ja kein Sozialismus. Aber es wäre damals ein schöner Tod für einen alten Kommunisten gewesen. Ich bin nicht traurig, daß der Kapitalismus jetzt hier ist.
Empfinden Sie manchmal Scham und Trauer über das, was in der DDR passiert ist?
Was heißt Trauer. Man trauert nicht in der Geschichte, man erlebt sie. Und wer die Geschichte kennt, ist zu gewohnt, was alles passiert.
Knapp 75 Jahre hat das Experiment Sozialismus gedauert. Was ist dabei herausgekommen?
Gar nichts. Und auch von der DDR bleibt nichts übrig.
Im Namen Ihrer Ideale gab es Millionen Tote. War es das wert?
Nein, nein, es war schrecklich.
Fühlen Sie Schuld, daß Sie da mitgemacht haben?
Ich habe nie mitgemacht. Ich habe nicht gewußt, was in der Zeit Stalins geschehen ist, die negativen Seiten habe ich bis in die siebziger Jahre nicht gekannt. Wissen Sie, in der Weltgeschichte sind solche Sachen üblich. Sie dürfen nicht vergessen, daß ich ein gebildeter Mensch bin, der die letzten dreitausend Jahre miterlebt hat.
Kurz vor seinem Tod hat Becher gesagt, der Grundirrtum seines Lebens sei gewesen, daß er glaubte, „der Sozialismus beende die menschliche Tragödie“.
Ja, das ist ein sehr trauriges Fazit. In meinem Buch „Dialog mit einem Urenkel“ habe ich gesagt: Ich bejahe das System, aber ich finde tausend kritische Sachen an ihm. 1991 habe ich dann gedacht, ich hätte genau das Gegenteil sagen müssen: Ich verneine das System, aber ich finde tausend gute Sachen an ihm. Heute weiß ich, daß diese Erkenntnis das größte Unglück meines Lebens gewesen wäre: Ich hätte nicht als Feigling leben können, sondern meine Einsicht bekanntgeben müssen. Ich hätte dann nicht mehr schreiben können, ich hätte keinem Menschen mehr helfen können.
Sie sind ein Gläubiger.
Der Grundfehler war, daß ich glaubte, was hier passierte, wären schlimme Dinge an einer prinzipiell guten Sache. Aber ich glaube nicht, daß ich so nützlich gelebt hätte, wenn ich diesen Fehler erkannt hätte. Ja sicher, ich hatte Angst, meinen Glauben zu verlieren. Das ist die verrückte Geschichte meines Lebens.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen