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Demokratisierung per Post

■ Hobbykunst oder Dissidenz? Im Osten galt Mail Art als subversiv, im Westen als Fluxus-Spinnerei. Nun werden die Künstlerkarten in der Berliner Urania gezeigt

Links oben auf der Postkarte ist ein Posthorn zu sehen. Darunter steht: „Es gibt viele interessante Tätigkeiten im Post- und Fernmeldewesen. Auskünfte erhalten Sie in allen Post- und Fernmeldeämtern.“ Um den oberen Satz zieht sich eine Sprechblase, deren unterer Zipfel zum Mund eines Männerkopfes führt. Über dessen Augen hat jemand eine schwarze Brille gemalt.

Um zu verstehen, was daran subversiv ist, muß man wohl in der Diktatur sozialisiert worden sein. Die Postkarte entstand Anfang der achtziger Jahre in der DDR als ein Kunstwerk, das an befreundete Künstler verschickt wurde. Die Gruppe von Künstlern, die sich seit Ende der siebziger Jahre in Dresden mit dem Vertrieb von Kunstwerken per Post beschäftigte, wurde ab 1981 vom Staatssicherheitsdienst bespitzelt („Operativ- Vorgang Feind“). Auf die Postüberwachung in der DDR war die Postkarte mit dem Posthorn ein versteckter Hinweis.

1984 wurde der Grafiker Jürgen Gottschalk verhaftet, in dessen Druckwerkstatt eine Mail-Art- Ausstellung stattgefunden hatte. Er wurde zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und ein Jahr später nach Westdeutschland abgeschoben. Das Verbrechen von ihm und seinen Künstlerkollegen bestand darin, Postkarten verschickt zu haben, auf denen es zum Beispiel hieß: „Kunst ist, wenn sie trotzdem entsteht.“ Jetzt sind ihre Arbeiten in einer Ausstellung des Museums für Post und Fernmeldewesen zu sehen. „Keine Kunst“ ist die bisher wohl größte Ausstellung, die sich in Deutschland mit Mail Art beschäftigt.

Wie es der Tradition dieses Kunstgenres entspricht, ist die Ausstellung nicht kuratiert worden; die Arbeiten, für einen Wettbewerb des Postmuseums entstanden, werden sämtlich in wilder Hängung gezeigt. Auch die Arbeiten, die die Geschichte der Mail Art illustrieren sollen, sind zum Teil auf dem Boden ausgelegt oder an Wäscheleinen aufgehängt.

„Mail Art“ ist, um es mit den Worten der Dresdener Stasi-Bezirksverwaltung zu sagen, eine „westliche Modeerscheinung auf dem Geist der bildenden Kunst, künstlerische Arbeiten sind im Postkartenformat und werden auf dem Postweg international ausgetauscht“. Die „westliche Modeerscheinung“ hat freilich eine lange Tradition. 1962 gründete der Künstler Ray Johnson in New York die Correspondence School of Art. Johnson hatte Ende der fünfziger Jahre die Malerei aufgegeben, um nur noch Zeichnungen und Collagen zu machen, und wandte sich schließlich ganz Postprojekten zu. In einem unaufhörlichen Recyclingprozeß arbeitete er alles um, was er per Post bekam, und schickte es weiter. In seinem völligen Verzicht auf eine materiell repräsentierbare Kunst war er auch ein Vorreiter der Konzeptkunst.

Zur selben Zeit begannen auch verschiedene Fluxus-Künstler wie Emmett Williams, Arthur Koepke oder George Brecht damit, sich auf Postkarten kleine Arbeiten zu schicken, diese zu bearbeiten und weiterzusenden. Eine der Ideen, die die Mail-Art-Künstler beflügelte, war gerade, daß man Kunst per Post demokratisieren und leichter zugänglich machen könne.

Doch obwohl einige dieser Arbeiten heute zum Kanon der Kunstgeschichte gehören (etwa On Kawaras „I'm still alive“ – Telegramme oder die „Postal Sculptures“ von Gilbert & George), ist die Mail Art bis heute insgesamt ein weitgehend übersehenes Gebiet geblieben. Der wichtigste Grund, warum sich der Kunstbetrieb nie wirklich für die Mail Art interessiert hat, dürfte – wie heute bei der Netzkunst im Internet – das Fehlen von ausstellbaren oder sogar verkäuflichen Werken gewesen sein. Die Arbeiten waren nicht wichtiger als der Kommunikationsprozeß selbst. Seine Relikte waren ohne Kenntnisse der Kommunikationssituation, aus der sie entstanden waren, oft kaum zu entschlüsseln. Die Mail Art hat sich jedoch bis in die Gegenwart an der äußersten Peripherie der Wahrnehmung des Kunstbetriebs gehalten. Während sie gerne als Hobbykunst abgetan wird, betrachten manche sie als das letzte Relikt einer Avantgarde, die in den sechziger Jahren versucht hatte, sich aus der erstickenden Umarmung der Kunstinstitutionen zu befreien.

In den siebziger und achtziger Jahren war die Mail Art vor allem für Künstler des damaligen Ostblocks und aus Lateinamerika ein wichtiges Mittel, um ihre Arbeiten international kursieren zu lassen. Gerade für einige der osteuropäischen Künstler, die als Dissidenten vom offiziellen Kunstbetrieb ausgeschlossen waren, war die Mail Art sogar das einzige Mittel, um ihre Arbeiten zu zeigen und im Ausland zu vertreiben.

Dieser Aspekt ist es, der im Mittelpunkt der Mail-Art-Ausstellung steht. Hier werden vor allem Arbeiten aus der ehemaligen DDR gezeigt. Der informative Katalog der Ausstellung, die zuerst im Staatlichen Museum Schwerin zu sehen war, rekonstruiert die Bedeutung, die die Mail Art für zahlreiche Künstler in der DDR und auch in anderen Ostblockländern hatte.

So sind nicht nur die Arbeiten der Dresdener Gruppe um Jürgen Gottschalk samt deren Stasi-Akten zu sehen, sondern auch die relativ bekannt gewordenen „I am glad“-Mitteilungen von Endre Tot. Daß die Ausstellung trotz ihrer historischen Bedeutung nicht in einem Kunst-, sondern im Postmuseum zu sehen ist, spricht für das Desinteresse, das der Kunstbetrieb bis heute an dieser kleinen, dissidenten Kunstgattung hat. Tilman Baumgärtel

„Keine Kunst? – Mail-Art-Projekte“. Museum für Post und Telekommunikation, bis 26.10.1997

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