Dem Ruf der Kunst folgend

Kunst wird heute eventmäßig von Stadtkämmerern zum Zweck der Gemeindewerbung eingesetzt. Eine Kunstreise durch Deutschland – Notizen vom Rande der Ereignisse  ■ Von Matthias Reichelt

Eigentlich ist es eine Unverschämtheit der Provinznester, zu glauben, sie könnten mit ihren sommerzentrierten Ereignissen wie documenta X, Skulptur. Projekte 97 Münster etc. unserer Hauptstadt das Wasser abgraben. Dennoch, der Zwang, sich am diskursiven Prozeß über die documenta und ihre diesjährige Kuratorin zu beteiligen, um überhaupt ernst genommen zu werden, brachte uns dazu, die weite Pilgerreise mittels Leihwagen anzutreten. Sorgfältig planten wir unsere Route via Wolfsburg, Bruce Nauman im Kunstmuseum (Stiftung Volkswagen); Hannover, Rebecca Horn in der Kestner Gesellschaft; Skulptur. Projekte 97 Münster; Bonn mit seinen drei postmodernen Prunkpalästen im Regierungsviertel (Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Kunst Museum Bonn, Haus der Geschichte der BRD) und natürlich die documenta X der Catherine David.

Kunst im öffentlichen Raum ist ja meistens dazu da, sie zu ignorieren. Ganz anders natürlich bei dem „Skulptur. Projekte 97 Münster. Jeder Besucherin und natürlich auch jedem Besucher sei der Erwerb des Kurzführers für 2 Mark empfohlen, ohne den man viele Werke kaum finden würde. Uns ist es aber auch mit dem Führer gelungen, so manches zu übersehen.

Trauben von Menschen schieben sich durch die Fußgängerzone der alten Stadt: Männer mit bunten Shorts, Marke Spielhöschen, Turnschuhen und Kamera, eigentlich fehlt nur der Sandeimer, und man könnte sie auf den Spielplatz schicken, und Frauen in zumeist karierten Shorts, mit der obligatorischen Gürteltasche.

Der Wandel in der Akzeptanz von Kunst ist enorm. Je rätselhafter und abstrakter, je mysteriöser sie sich gibt, desto häufiger ist ein gehauchtes „schöön“ oder ein entzücktes „niedlich“ zu hören. Ob dies die passenden Adjektive für die Bewertung von Kunst am Ende des 20. Jahrhunderts (bedeutungsschwer!) ist, sei dahingestellt. Das Publikum jedenfalls hat sich verändert: Diedrich-Diederichsen-Blick und -Brille im postexistentialistischen Look der früheren Jahre ist einem bunten Völkchen gewichen, das sich zu den populären Textilwaren der Damen- und Herrenoberbekleidungsabteilungen in den Kaufhäusern bekennt. Selbst die documenta X, das Nonplusultra der Intelligenz, die dieses Jahr sehr schwergewichtig dem Thema Globalisierung frönt, wies ein erfrischend unakademisches Publikum auf.

Gerhard Richters Bildatlas, sein Bildarchiv und -gedächtnis, Grundlage seiner Gemälde, hätte vor ein paar Jahren bei den meisten Kopfschütteln und Unverständnis hervorgerufen. Also nicht sein eigentliches bildnerisches Werk ist zu sehen, sondern nur seine visuellen Vorlagen, die er manches Mal bildmotivisch getreu, aber mit einem zarten Schmelz aus Unschärfe auf die Leinwand überträgt. Sehr beeindruckend fanden wir seine (!) Fotografien des von ihm (!) entworfenen eigenen Domizils sowie die Fotos von seiner jungen Frau nebst Sohnemann aus dem privaten Poesiealbum. Mal war die stillende Mutter zu sehen, mal ihr noch unausgeschlafenes Gesicht, das unter der Bettdecke hervorlugte. Insgesamt ein sehr imposanter Blick ins Intimleben einer deutschen Künstlerpersönlichkeit, noch dazu von marktführender Qualität (teuer, teuer).

Ganz vorneweg schwimmen die neuen Medienkünstler. Malerei ist ja eigentlich seit über hundert Jahren tot. Aus dieser tiefen Erkenntnis heraus möchte ja der BBK (Berufsverband Bildender Künstler) in Berlin auch das Angebot der Druckwerkstatt verändern: weg von den Drucktechniken hin zum Multimedia-Studio, damit in Zukunft alle Berliner Künstlerinnen und Künstler ihre Videoclips im Stil der Joop- und Calvin-Klein- Ästhetik fertigen können.

Komischerweise wird auf der documenta X nur den um Emanzipation ringenden Menschengruppen (Schwarze und Frauen) noch das Medium Malerei zugebilligt.

Wiederum ganz anders läuft alles in Bonn, der heimlichen Wunschhauptstadt aller Berlinerinnen und Berliner. Hier trifft sich die rheinische Kleinstadtklientel, Typ aufgeklärter Citoyen, sonntags zum Brunch bei Jazz oder Bluesrock. Entweder finden die Konzerte auf dem Dachgarten (Kunst!) oder, bei schlechtem Wetter, in dem zeltüberspannten Raum (Kunst!) der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland und dem eher lapidar lautenden Kunst Museum Bonn statt. Übrigens zitiere ich immer in der von den Institutionen benutzten Schreibweise, unabhängig von Syntax und Interpunktion. Die werden sich schon was dabei gedacht haben. Die Kunst, das Museum, das Bonn.

Von dieser Bonner Museumsmeile setzt sich das Rheinische Landesmuseum mit seiner Sechziger-/Siebziger-Jahre-Gesamtschul-Beton-Aura wohltuend ab. Das Gebäude ist funktional häßlich und lenkt den Blick auf die gezeigte Ausstellung, was mir eigentlich wesentlich angenehmer und für die Kunst günstiger zu sein scheint. Auch werden an der dortigen Kasse, die den Titel Museumsshop nicht verdient, ausschließlich Tickets, Kataloge und Postkarten feilgeboten. Wo bleiben die Schlüsselanhänger, Flaschenöffner, Korkenzieher, Notizblöcke? Die Leitung dieser Anstalt hat noch nicht kapiert, daß der moderne Besucher, die moderne Besucherin die Aufenthaltszeit splittet in 30 Prozent Ausstellung, 40 Prozent Museumsshop und 30 Prozent Museumsrestaurant. Im Kunstmuseum Wolfsburg hat man dies von Anfang an begriffen. Das Marketing von Hardware wie Software hat hier Hochkonjunktur. Das Museumsrestaurant, das sich getreu des überall im Haus zitierten Walsignets, „Walino“ nennt, bietet ein mehrgängiges Candellightdinner bei Konversation über Kunst mit anschließender Führung durch die Sammlung.

Nach dieser Arttortur, von Wolfsburg über Hannover, Münster, Bonn und Kassel, erholten wir uns im Baden-Württembergischen und suchten zum Schluß noch die Staatsgalerie Stuttgart auf. Dort wird gerade die never-ending Robert Mapplethorpe Ausstellung nebst obligatorischem Aids-Quilt gezeigt. Ich weiß nicht, ob es an dem giftgrünen Boden lag oder ob ich mich unbewußt mit den Stuttgartern solidarisierte (deren Schamgefühl erheblich verletzt war und die deshalb zumindest ihren Kindern den Eintritt ohne Begleitung Erwachsener verboten), daß ich den ersten Migräneanfall meines Lebens bekam. Vor lauter Farbflimmern auf meinen Netzhäuten konnte ich die dargebotenen Schwänze gar nicht sehen!