: Ein Einblick in den Atomstaat
Radioaktive Schuhsohlen für warme Füße – in Paris auf den Spuren der „Pioniere der Radioaktivität“ ■ Von Dorothea Hahn
Wer Einblick in einen Atomstaat nehmen will, kann ganz gemütlich mit einem Spaziergang im Pariser Quartier Latin anfangen. In den bergauf, bergab führenden, kurvigen Straßen zwischen Jardin des Plantes, Panthéon und Boulevard Saint Michel hat vor genau 100 Jahren die strahlende Zukunft begonnen. Den Franzosen bescherte sie sehr schnell fünf Nobelpreise und ein bißchen später die höchste AKW-Dichte der Welt.
Als Wegweiser dient eine – leider nur auf französisch erschienene – Broschüre1 mit Stadtplan und Kommentaren zu den Wirkungsstätten der „Pioniere der Radioaktivität“. Mindestens zwei Stunden sollte man sich Zeit nehmen – für die Promenade und für die häppchenweise Lektüre der Broschüre, die aus Anlaß des Jubiläums erschienen ist. Da keine atomkritische Betrachtung sie trübt, gibt sie einen guten Einblick in das Denken der französischen Atomiker. An elf Orten im Quartier Latin beschreibt sie, was dort vor 100 Jahren geschah. Oft lädt eine Parkbank oder eine Wiese zum Niederlassen ein. Unter anderem liest man über die Entdeckung der „uranischen Strahlen“, die ein gewisser Henri Becquerel im Jahr 1896 in einem Flügel des Museums an der rue Cuvier machte. Und man liest über diejenigen Elemente wie „Polonium“ und „Radium“, an denen die polnische Immigrantin Marie Sklodowska 1898 zusammen mit ihrem französischen Gatten Pierre Curie ein paar hundert Meter weiter in einem alten Schuppen das Phänomen beobachtete, das sie „Radioaktivität“ taufte.
Der Stadtteil am linken Seine- Ufer ist auch heute noch eine Hochburg der französischen Natur- und Geisteswissenschaften. Auf engem Raum drängeln sich die Ende des letzten Jahrhunderts erbauten Fakultäten der Sorbonne, das Naturkundemuseum mit den nachgebildeten riesigen Dinosauriern im Foyer und das „Collège de France“ mit den intellektuellen Spitzenkräften. Die allerersten Schuppen und Labors der Becquerel, Sklodowska und Curie allerdings sind verschwunden. Und das ist gut so. Denn die Strahlung, die das völlig ungeschützte Hantieren mit der aus dem böhmischen Joachimsthal importierten Pechblende und anderen Mineralien hinterließ, kostete schon ihre Entdecker die Gesundheit und in den meisten Fällen auch das Leben.
Allein in der Dynastie Curie starben drei Nobelpreisträger – Mutter Marie Curie (1934), Tochter Irène Joliot-Curie (1956) und Schwiegersohn Frédéric Joliot- Curie (1958) – an Leukämie. Vater Pierre Curie „entkam“ durch einen frühen und tödlichen Autounfall im Jahr 1906 dem forschungsbedingten Strahlentod.
Eine konkrete Wirkungsstätte der Pioniere findet sich auf halber Wegstrecke in der rue Pierre et Marie Curie. Die ist im Gegensatz zu den gleichnamigen Straßen in fast allen französischen Städten zwar klein, dafür aber oho. In ihr geschah Großes. An der Hausnummer 11 eröffnete 1914 in einem neu errichteten Klinkerbau das „Radium-Institut“, das erst Marie Curie, später ihre Tochter Irène und schließlich Schwiegersohn Frédéric leiteten, die ebendort im Jahr 1934 die künstliche Radioaktivität und weitere Elemente entdeckten.
Für die zweifache Nobelpreisträgerin Marie Curie (1903 bekam sie den Nobelpreis für Physik – zusammen mit ihrem Gatten und mit Becquerel; 1912 bekam sie den für Chemie – allein) war das Radium- Institut eine späte Anerkennung ihres Wirkens. Nach dem Unfalltod ihres Gatten hatte sie zwei Jahre warten müssen, bis sie 1908 als erste Frau überhaupt einen Lehrstuhl an der Sorbonne bekam. Der Einzug in die „Académie des Sciences“, die ihren Gatten wegen des gemeinsamen Nobelpreises aufgenommen hatte, blieb ihr lebenslang verwehrt. Frau, Immigrantin und dazu noch angeblich die Geliebte eines verheirateten Mannes – das war einfach zu viel für das Pariser Establishment der Zeit. Eine Wiedergutmachung gab es erst fünfzig Jahre nach ihrem Tod, als François Mitterrand den 8. März 1994 – den Frauentag – zur demonstrativen Umbettung der Curie-Reste in den Panthéon nutzte. In dem Tempel der großen Toten des Landes war Curie wieder die erste Frau, die aufgrund eigener Verdienste aufgenommen wurde.
In dem in Sichtweite des Panthéon gelegenen Klinkerbau ist 1964 das „Musée Curie“ eingezogen und hat die drei Parterreräume dem Publikum geöffnet (von Montag bis Freitag zwischen 13.30 und 18 Uhr, Eintritt kostenlos). 1981 wurde auch das dortige Labor rundum „dekontaminiert“. Sämtliche Gerätschaften, auch die Pipetten, die die „Pioniere“ aus Mangel einer dritten Hand beim Experimentieren mit der eigenen Lippe festhielten, sind ausgetauscht worden. Gefahrlos dürfen Besucher alles anfassen. Nebenan in dem holzgetäfelten Büro von Marie Curie zeigt eine junge Museumsmitarbeiterin den angeblich letzten Laborkittel der Nobelpreisträgerin und zieht deren letzte – wegen eines grauen Stars ausgesprochen starke – Brille aus der obersten Schreibtischschublade. „Keine Angst“, beruhigt sie, „das strahlt nicht mehr.“ Dann erläutert sie, daß Madame Curie schon „sehr früh“ Gesundheitsprobleme gehabt, sich aber lange geweigert habe, den Zusammenhang mit dem Radium zu akzeptieren.
Im Nebenraum sind Nachbildungen jenes rudimentären „Elektrometers“ und anderer leichter Metallinstrumente ausgestellt, die Pierre und Marie Curie in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit bloßen Händen bedienten. Daneben steht der Metallkoffer, in dem Madame Curie 1921 ein Gramm Radium auf einer Vortragsreise durch die USA mit sich herumschleppte. Mehrere Vitrinen zeigen Accessoires und Werbetexte aus den „verrückten Jahren der Radioaktivität“ nach dem Ersten Weltkrieg, als die Neuentdeckung als Allheilmittel galt: „radioaktive Schuhsohlen“ für gut gewärmte Füße, „radioaktive Cremes“ gegen Mikroben und das Altern, und „radioaktive Kugelschreiber“ für Glück und Erfolg im Beruf.
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