Schattenspendende Bäume und Wälder

Eine Wanderung durch die südfranzösischen Cevennen auf den Spuren von Robert Louis Stevenson und seiner Eselsdame Modestine. Reisen mit und gegen die Natur  ■ Von Ralf Peters

In der Ferne hämmert ein Specht sein neues Domizil. Wir tragen den zitronigen Duft von zerriebenem Thymian, den wir vom Wegesrand gepflückt haben, an unseren Händen. Rechts in der Senke wartet ein Maulbeerbaum seit Jahren vergebens auf seine früheren Mieter. Raupen bewohnten einst ihren Wirt, um auf ihm Kokons aus dem edlen Material zu bauen, das, gesponnen und gewoben, jenen unvergleichlich anschmiegsamen Stoff ergibt, die Seide. Wir lassen ein paar Häuser hinter uns und stehen plötzlich in einem kleinen, verwilderten Bambushain. Die langen, mächtigen Gräser bilden ein schattenspendendes Dach. Hier und da die Spuren von Wildschweinen, die vergangene Nacht durchgezogen sind. Von weitem hören wir den zu dieser Jahreszeit noch rauschenden Fluß, der sich unbeeindruckt von der ihn umgebenden Vegetation seinen Weg durch das enge Tal sucht. Wir sind in den Cevennen.

„Was micht anbetrifft, so reise ich nicht, um irgendein Ziel anzulaufen, sondern um zu laufen. Ich reise des Reisens wegen. Worauf es ankommt, ist in Bewegung zu sein, die Nöte und Haken unserer Existenz unmittelbar zu spüren, aus diesem Pfuhl der Zivilisation auszusteigen und zu finden, daß der Boden unter den Füßen aus Granit besteht und mit scheidenden Kieseln bestreut ist.“

Als sich Robert Louis Stevenson im Jahre 1878 in Begleitung der störrischen Eselsdame Modestine auf den Weg durch die Cevennen machte und darüber seinen ersten Reisebericht schrieb, initiierte er eine neue Art des Reisens, ein Reisen in, mit und gegen die Natur, statt des bis dahin ausschließlich praktizierten bequemen Tourismus der nie auf ihren Komfort und Luxus verzichtenden Reichen seiner Zeit.

Doch hatte sein kleines Büchlein bis heute nicht gerade eine touristische Invasion in die Cevennen zur Folge. Und das nicht trotz seines Berichtes, sondern wohl eher wegen der darin zum Mit- und Nachfühlen notierten Strapazen und Mühen. Die Touristen unseres Jahrhunderts suchten sich lieblichere, einladendere Gegenden, um ihren auf Zivilisationsmaße gedämpften Abenteuerdurst zu stillen oder die verdiente Erholung in schöner, kulturgetränkter Landschaft zu suchen.

Wir beginnen unsere Erkundungen nicht wie Stevenson bei Le Puy, dem äußersten Nordwesten, sondern in Anduze, der südöstlich gelegenen „Pforte der Cevennen“. Von hier aus zeigt sich das „andere Südfrankreich“ von Seiten, die Stevenson zum Teil verborgen blieben, ohne die rauhe, herbe Schönheit, die er schilderte, vermissen zu lassen.

Anders sind die Cevennen mitsamt ihren Bewohnern in der Tat! Die Bevölkerung ist schon seit dem 16. Jahrhundert überwiegend protestantisch, und alle Versuche der katholischen Obrigkeit in Paris, das eigenwillige Volk zur Rekonvertierung zu bewegen, erreichten nur eine noch stärkere Unerschütterlichkeit im protestantischen Glauben. Besonders schlimm ging es zwischen 1685 und 1705 zu, der Zeit der „Wüste“, wie die Hugenotten sie hier nannten. Im ersten Guerillakrieg der Geschichte zwischen ein paar tausend protestantischen Camisarden und der französischen Armee gingen beide Seiten mit unvorstellbarer Grausamkeit vor.

Die Geschichte der Camisarden wird im Musée du Désert, bei Mialet, nördlich von Anduze, erzählt. Anduze ist eine freundliche Kleinstadt mit verwinkelten Gassen, Marktplätzen, Brunnen und allem, was dazugehört. Von dort machen wir uns auf den Weg durch besagte Pforte der Cevennen, die aus einem tiefen Spalt, den der Fluß Gardon in einen Kalksteinberg gezogen hat, besteht.

In der Wahl der Fortbewegungs- und Transportmittel folgen wir ebenfalls nicht dem Beispiel Stevensons. Statt eines kleinen Esels fahren wir mit dem Auto und tragen bei Wanderungen unser Gepäck selbst. Nicht zuletzt wegen der ausgedehnten, Kühle und schattenspendenden Wälder sind die Cevennen sogar im Sommer ein ideales Wandergebiet. Wir folgen zunächst der Straße nach St.- Jean-du-Gard, biegen an der Pont de Salindre nach Südwesten in Richtung Lasalle ab. Nach zwei Kilometern liegt rechts, etwas oberhalb der Straße, das Örtchen Thoiras. Es besteht aus ein paar Häusern, einer Grundschule und einer evangelischen Kirche, hinter dem Dorf gelegen, versteckt vor den Blicken derer, die nicht von ihr wissen, neben einem alten Pfarrhaus über mit vereinzelten Olivenbäumen und Zypressen bepflanzten Terrassen wachend. Die Kirche aus dem Jahre 1689 gehörte ursprünglich zu einem Kloster, das von den Protestanten zerstört wurde. Heute ist sie ein „Temple“, ein evangelisches Gotteshaus. Am Hang vor der Kirche, mit Blick auf die sanften Hügel und das weite Tal der Salendrique, ein kleiner, alter Friedhof, mit kaum einem Dutzend teils gepflegter, teils längst vergessener Gräber. Die Grabsteine zeugen davon, daß man in dieser Gegend gute Chancen hat, 85 Jahre und älter zu werden, vorausgesetzt, man überlebt das erste Vierteljahrhundert, was für ein widerspenstiges Völkchen wie die Cevenolen keine einfach Aufgabe zu sein scheint. Die erwähnte Geschichte der Camisarden gegen die katholische Staatsmacht gibt davon blutiges Zeugnis.

Ein jüngeres Beispiel für die Unbeugsamkeit der Cevenolen ist der Kampf der Maquisards, wie sich die Résistance gegen Nazideutschland in diesem Gebiet nannte. In den Reihen der Maquisards fanden sich übrigens auch deutsche Emigranten. Ein Zentrum des Widerstands war das ChÛteu de Malérargues, auf halbem Wege von Thoiras nach Lasalle. Bei dem ChÛteau, das früher eine Seidenspinnerei beherbergte, erschossen die Nazis einen der Führer der Maquisards, Robert le Noir. Über die tragische Geschichte wurde vor einiger Zeit mit Jugendlichen aus der Umgebung ein Film gedreht, der bei den Einheimischen Anklang und Beachtung fand. Initiiert und durchgeführt wurde das Projekt von den Engländern Paul Silber und Clara Harris, zwei Mitgliedern des Roy Hart Theatre, das vor gut zwanzig Jahren mit fünfzig Leuten von London nach Malérargues zog. Die Mitglieder der Gruppe um den Schauspieler und Sänger Roy Hart haben hier mitten in den Cevennen das Centre Artistique International Roy Hart aufgebaut. In der Nähe von Malérargues finden sich auch die wie verirrt wirkenden Bambushaine, einige gepflegt, andere sich selbst überlassen.

Überhaupt, die Bäume (wobei das Gras Bambus strenggenommen nicht dazu gehört). Im Südosten der Cevennen gibt es ein in Europa wohl einzigartiges Nebeneinander von Maulbeerbäumen, Judasbäumen, Buchen, Birken, Bambus, von Tannen, Feigen, Pappeln, Pinien und Palmen, von Eichen, Obst- und Olivenbäumen und, nicht zu vergessen, den Edelkastanien.

„Ich wünschte, ich könnte vom Wuchs dieser noblen Bäume einen Eindruck vermitteln, davon, wie sie gleich der Eiche ihre Äste weit ausladend strecken und wie sie gleich der Weide ihre Zweige mit hängenden Blättern schleifen lassen; wie sie auf geraden, gerieften Säulen stehen gleich den Pfeilern einer Kirche, wie sie gleich der Olive aus dem morschesten Stamm schlanke, junge Sprößlinge treiben und ein neues Leben auf den Trümmern des alten beginnen können. So haben sie von der Eigenart vieler verschiedener Bäume etwas abbekommen.“

Lasalle ist ein verschlafener, sympathischer Ort. Am späten Nachmittag beginnen die alten Cevenolen auf dem Platz vor dem Tempel ihr tägliches Boulespiel, und die Touristen sitzen auf der Terrasse des einzigen Cafés und schauen zu. Das Dorf ist ein günstiger Startpunkt für einige Ausflüge, zum Beispiel südwärts in Richtung St.-Hippolyte-du-Fort. Nach wenigen Kilometern wacht auf einer Anhöhe das ChÛteau de St. Bonnet, Relikt einer stolzeren Vergangenheit. St.-Hippolyte-du-Fort bildet die südliche Grenze der Cevennen. Das Städtchen strahlt den Charme einstigen Wohlstands aus, den die Seidenproduktion Anfang des 19. Jahrhunderts brachte. Die Seidenindustrie prägte bis in unser Jahrhundert hinein das Bild der Cevennen. Der Ausbruch von Epidemien, die die Seidenraupen um 1880 befielen, läutete das Ende der Seide in Südfrankreich ein. Zwar besiegte Louis Pasteur nach Jahren der Forschung die Krankheit. Doch die billigere Konkurrenz aus dem Fernen Osten tat nun das Ihrige, um die Seidenindustrie zusammenbrechen zu lassen.

Nur wenige Produktionsstätten konnten sich halten. 1965 mußte die letzte Seidenspinnerei der Cevennen in St.-Jean-du-Gard schließen. Doch schon in den siebziger Jahren erweckte man die Seidenproduktion in einer Melange aus moderner Forschung, kommerzieller Nutzung und tourismusorientierter Traditionspflege zu neuem Leben. Das Musée de la Soia in St. Hippolyte zeigt die Geschichte der cevenolischen Seide von den Anfängen bis heute. Im angrenzenden Maison de la Soie kann man Stoffe, Tücher und Kleider aus dem edlen Stoff erstehen.

Zurück in Lasalle, folgen wir der Straße in den Norden nach St.- Jean-du-Gard. Höhepunkt der Strecke ist im zweifachen Sinne der Ort Ste.-Croix-de-Caderle, der mit seiner uralten Kapelle und dem verwunschenen Friedhof genau auf der Paßhöhe liegt. An klaren Tagen soll man von hier bis zum Mittelmeer sehen können.

„Die Sonne, noch weit vom Untergang, legte einen goldenen Dunstschleier über die Hügelkuppen, aber die Täler waren bereits in tiefe, stille Schatten getaucht.“

St.-Jean-du- Gard macht den Eindruck, als sei es aus den gar nicht mal häßlichen Resten zusammengestellt, die bei der Komposition anderer südfranzösischer Städte nicht gebraucht wurden. Nichts paßt so richtig zusammen, die Lücken zwischen den Gebäuden und den Ortsteilen haben nie die richtige Größe. Hier endete Stevensons Reise durch die Cevennen, hier verabschiedete er sich voller Wehmut von Modestine, der Eselsdame, die trotz aller Widerspenstigkeit sein Herz erobert hatte. Über St.-Jean-du-Gard verlor Stevenson kaum ein Wort. Und so wollen auch wir schweigen.

Alle Zitate stammen aus: Robert Louis Stevenson: „Reise mit dem Esel durch die Cevennen“. Herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Ulrich C.A. Krebs, Diederichs Verlag, o.J., o.O.

Literatur:

C. Lenhartz, H.W. Goll: „Cevennen für Freunde“. Edition La Colombe, Bergisch Gladbach 1994

E. Spiegelhalter: „Cevennen. Verlassenes Land“. Schillinger Verlag, Freiburg 1984

Informationen vor Ort gibt es im Office de Tourisme d'Anduze,

Plan de Brie, 30140 Anduze,

Tel.: 0033-4-66619817

Informationen zur Arbeit des Roy Hart Centre, dessen Lehrer zum Teil auch in Deutschland arbeiten: Cháteau de Malérargues,

30140 Thoiras, Bureau,

Tel.: 0033-4-66854598,

Fax: 0033-4-66852557